Inga Zimprich und Julia Bonn, Künstlerinnen, im Gespräch über die Westberliner Gesundheitsbewegung

»Man wehrte sich gegen eine krankmachende Gesellschaft«

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Wie kam es zu Ihrer Recherche?

Inga Zimprich: Wir suchten Kontakt zu Projekten in Berlin mit radikalen Ansätzen zum Thema Gesundheit. Wir haben zum Beispiel das Feministische Frauengesundheitszentrum, das Heilehaus und die Antipsychiatrische Beratungsstelle besucht. Wir wollten herausfinden, was wir von diesen Herangehensweisen an das Gesundheitssystem lernen können.

Wie haben Sie gemerkt, dass es früher eine Gesundheitsbewegung gab?

I.Z.: Uns ist irgendwann aufgefallen, dass die Orte, die wir besuchten, in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren entstanden waren. Da wurde uns klar, dass es damals eine Gesundheitsbewegung gegeben hatte. Parallel zur Gesundheitsbewegung entstand die Umweltbewegung. Heutzutage stellen die Grünen die Außenministerin, doch die Gesundheitsbewegung ist fast spurlos verschwunden. Dabei gab es eine Zeit, in der Gesundheit ein wichtiges politisches Thema war, in der es politische Aktionen und Projekte zum Thema Gesundheit gab. Wir wollten herausfinden, worüber sich die Menschen, die daran teilgenommen haben, ausgetauscht haben und wie sie sich organisiert haben.

Wie entstand die Gesundheitsbewegung?

I.Z.: Die Leute haben sich organisiert, weil sie mit dem Gesundheitssystem unzufrieden waren. Das waren sowohl Leute, die im medizinischen Bereich arbeiteten, als auch Patientinnen und Patienten. Beeinflusst wurde die Gesundheitsbewegung von verschiedenen Seiten, zum Beispiel von der Antipsychiatrie aus Italien und von der Krüppelbewegung aus Deutschland.

Wer war in der Berliner Gesundheitsbewegung aktiv?

Julia Bonn: Es gab Ärztekollektive, in denen Hierarchien zwischen Ärzten und Pflegepersonal aufgebrochen wurden. Es gab auch Beratungscafés, in denen Hierarchien zwischen Beratenden und Ratsuchenden abgebaut wurden, indem beide Seiten persönliche Erfahrungen teilten.

Ein wichtiger Ort war das Heilehaus, ein selbstorganisiertes Gesundheits­zentrum in einem besetzten Haus in der Waldemarstraße in Berlin-Kreuzberg, das es immer noch gibt. In Kreuzberg gab und gibt es Badestuben, in denen man sich selbst und Wäsche waschen kann. Hausbesetzerinnen und Haus­besetzer entwickelten ein Modell der nachbarschaftlichen Gesundheits­sorge. In besetzten Häusern herrschten damals oft sehr schlechte hygienische Bedingungen. Es gingen Krankheiten um, was auch mit schlechter Ernährung zu tun hatte. Mit einfachen Rezepten und Tipps versuchten die Leute, niedrigschwellig Wissen über Gesundheit zu sammeln und weiterzugeben.

Welche feministischen Aspekte hatte die Gesundheitsbewegung?

I.Z.: Viele Frauen hatten das Gefühl, kaum etwas über ihren Körper zu wissen und der patriarchal dominierten Gynäkologie wenig entgegensetzen zu können. Sie nahmen in Gruppen vaginale Selbstuntersuchungen vor, um eigene Beobachtungen zu machen, sich auszutauschen und Wissen zusammenzutragen.

Spielte Kritik am Kapitalismus eine wichtige Rolle in der Gesundheitsbewegung?

J.B.: Es gab die Annahme, dass Veränderungen im Gesundheitssystem auch politische Veränderungen nach sich ziehen würden. Eine von einem Autorenkollektiv unter Pseudonymen veröffentlichte Broschüre mit dem Titel »Wege zu Wissen und Wohlstand. Oder: Lieber krankfeiern als gesundschuften« finden wir besonders spannend. Darin wird beschrieben, wie man bestimmte Krankheiten vortäuscht, um einen Krankenschein zu erhalten.

I.Z.: Es ging darum, sich gegen eine krankmachende Gesellschaft zu wehren. Die Zeit, in der man vorgeblich krank war, sollte genutzt werden, um sich politisch zu organisieren.

Gibt es Projekte oder Ansätze der Gesundheitsbewegung, die nicht mehr existieren, aber heutzutage gut gebraucht werden könnten?

I.Z.: Ich wünschte mir, es gäbe wieder mehr Gesundheitsläden in Berlin. Dort trafen sich damals Selbsthilfegruppen wie die Rheuma-Liga, um sich zu organisieren. Das waren politisch Aktive, die Veränderungen im Gesundheitssystem voranbringen wollten.

Ein anderes Beispiel ist das Apothekerkollektiv, das die Apotheke als poli­tischen Ort begriff, an dem man sich über Medikamente sowie deren Nebenwirkungen berät und an dem das Kollektiv Salben selbst herstellt. Heutzutage befinden wir uns auf dem Weg zum digitalen Rezept, zur Online-Apotheke.

Gibt es Aspekte der Gesundheitsbewegung, die Sie kritikwürdig finden?

I.Z.: Die Praktiken der zweiten Welle der Frauenbewegung, etwa vaginale Selbstuntersuchungen, waren sehr auf weiße Cis-Frauen ausgerichtet. Es gab keine Offenheit für Inter- und Transpersonen. Rassismus im Gesundheitssystem wurde wenig thematisiert.

 

Inga Zimprich; Julia Bonn
Inga Zimprich (links) und Julia Bonn (rechts) sind Künstlerinnen. 2015 gründeten sie die Feministische Gesundheitsrecherchegruppe und sammelten Material über die Westberliner Gesundheitsbewegung der siebziger und achtziger Jahre. Daraus entstanden unter anderem die Broschüre »Practices of Radical Health Care« und eine gleich­namige Ausstellung, die zum Beispiel auf der elften Berlin Biennale zu sehen war.

 

 

J.B.: Es gab auch die Krüppelfrauenbewegung, die bereits damals Ableismus in der Frauenbewegung angesprochen hat. Das betrifft durchaus auch die Gesundheitsbewegung, da es ja starke Überschneidungen mit der Frauenbewegung gab.

Welche Forderungen der Gesundheitsbewegung sind heutzutage noch relevant?

J.B.: Die Frauengruppe »Brot und Rosen« gab 1972 das erste Frauenhandbuch für Abtreibung und Verhütung heraus. Auf der Rückseite fand sich ein Forderungskatalog, beispielsweise die Abschaffung von Paragraph 218 des Strafgesetzbuchs, der Abtreibungen unter Strafe stellt, und des Wer­beverbots für Abtreibungen.

Der kürzlich veröffentlichte Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP sieht die Abschaffung des Werbeverbots für Abtreibungen vor. Warum braucht es heutzutage noch feministische Kritik am Gesundheitssystem?

I.Z.: Weil die Forderungen von damals eben größtenteils nicht erfüllt sind. Okay, dass Ärztinnen und Ärzte über Abtreibungsangebote informieren, wird wohl bald nicht mehr strafbar sein, aber das Hauptproblem bleibt: Ein Schwangerschaftsabbruch bleibt illegal.

J.B.: Aufgrund der Illegalisierung sind Abtreibungen auch noch immer nicht Bestandteil der medizinischen Aus­bildung, was ein weiteres Problem ist.

Was lässt sich von der Gesundheitsbewegung lernen?

I.Z.: Die Leute haben sehr politisch zum Gesundheitssystem gearbeitet zu ­einem Zeitpunkt, an dem das Gesundheitssystem bei Weitem nicht so schlimm war wie heutzutage. Damals standen Krankenkassen noch nicht im Wettbewerb miteinander, Krankenhäuser wurden noch nicht von Wirtschaftsberaterinnen und -beratern ­optimiert, es gab keine Fallpauschalen.

Erst in den neunziger Jahren gab es einen starken neoliberalen backlash, der dazu geführt hat, dass die Debatten über das Gesundheitssystem inzwischen stark von wirtschaftlichen ­Erwägungen geprägt sind und dass die Wünsche der politisch Aktiven der ­Gesundheitsbewegung abgewertet wurden. Die Bewegung hat uns gelehrt, dass man nicht nur Forderungen an politisch Verantwortliche stellen, sondern auch durch Selbstorganisation etwas bewirken kann.