Der Comic »Der Duft der Kiefern« von Bianca Schaalburg

Nichts gewusst

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»Der Duft der Kiefern liegt schön und schwer in der Luft. Ich bin sechs Jahre alt.« Im Romanzyklus »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« von Marcel Proust bringt der Geschmack einer Madeleine die Erinnerung an die Vergangenheit zurück, im autobiographischen Comicdebüt von ­Bianca Schaalburg ist es der Geruch der Nadelbäume, der die Protagonistin in die eigene Familiengeschichte eintauchen lässt. Die Kiefern stehen in der von Bruno Taut 1929 erbauten Waldsiedlung in Berlin-Zehlendorf, wo die 1968 geborene Illustratorin in den Siebzigern gemeinsam mit ihrer Mutter regelmäßig ihre Großmutter besuchte. An diese richtet sie als Elfjährige die Frage: »Wie war das mit den Juden damals?« Die Antwort: »Hier gab es keine Juden. Wir haben ja von all dem nichts gewusst.«

Jahre später stößt die Autorin auf Ungereimtheiten in der Familien­geschichte: Vor dem Haus der Großeltern in der Eisvogelstraße sind drei Stolpersteine verlegt worden, die darauf hindeuten, dass ihre Familie von der Zwangsumsiedlung der vormaligen Bewohner profitiert hat. Schaalburg recherchiert und erfährt, dass ihr Großvater bereits 1926 in die NSDAP eintrat. Doch was er während des Kriegs im lettischen Riga gemacht hat, wo allein 1942 über 40 000 Juden erschossen wurden, kann in der Familie niemand be­antworten.

Diesem lückenhaften Familiengedächtnis, dem Verdrängen und Verschweigen, setzt die Zeichnerin Fakten, Zahlen und Namen entgegen: Sie ermittelt Adressen, dokumentiert Reisen, bringt Daten miteinander in Verbindung. Schaalburg wird im Laufe ihrer Recherche klar, dass ein tief verborgenes Geheimnis existieren muss, über das niemand mehr Auskunft geben kann. So bleibt man am Ende dieser auf vier Zeitebenen angesiedelten und in ihrer Detail­freude beeindruckenden Graphic Novel ebenso ratlos zurück wie die Autorin. Die Wahrheit ist mit den Menschen, die sie verschwiegen haben, begraben worden.