Der Prozess gegen die Organisation Memorial in Russland

Unerwünschte Erinnerung

In Russland werden zwei Prozesse gegen Memorial geführt. Der Organisation drohen Verbot und Auflösung.

Memorial ist wegen ihrer weitverzweigten netzwerkartigen Struktur, die aus einer Vielzahl gleichnamiger Organisationen besteht, nicht leicht zu durchschauen. Selbst Richterin Alla Nasarowa verlor an den ersten Prozesstagen zeitweilig den Überblick. Ihr obliegt es, am Obersten Gericht Russlands ein Urteil gegen die älteste Nichtregierungsorganisation (NGO) des Landes zu fällen. Am 25.November hat der Prozess begonnen, für den 28.Dezember ist der drit­te und voraussichtlich letzte Verhandlungstag angesetzt.

Entscheidet Nasarowa im Sinne der Generalstaatsanwaltschaft, wird Memorial formal aufgelöst. Allerdings richtet sich deren Antrag nur gegen Memorial International. Dieser Dachverband für Dutzende russische und einige ausländische Memorial-Organisationen spielt in Russland eine führende Rolle bei der historischen Aufarbeitung po­litischer Verfolgung und des stalinistischen Terrors.

Aus Perspektive von Generalstaatsanwalt Igor Krasnow ist die Sachlage eindeutig. Memorial International wurde 2016 in das Register sogenannter ausländischer Agenten eingetragen, was der Organisation die Verpflichtung auferlegt, diesen Status bei jeder öffentlichen Äußerung und Publikation entsprechend kenntlich zu machen. In den Jahren 2019 und 2020 wurden gegen Memorial und den Vorsitzenden der Organisation, Jan Ratschinskij, wegen fehlender solcher Markierungen hohe Bußgeldstrafen verhängt. Krasnow führt in seiner Anklageschrift nun insgesamt 20 neue Vergehen an, darunter eine fehlende Markierung auf einem von Memorial kreierten Brettspiel. Dass Versäumtes bereits vor den Gerichtsentscheiden über Verstöße gegen das »Agentengesetz« nachgetragen worden war und die Beanstandungen mit der Zeit immer abstrusere Züge annahmen, obwohl der Gesetzestext keine klaren Markierungsvorgaben enthält, scheint im Justizapparat niemanden zu interessieren.

2012 kritisierte Memorial in einer Erklärung das damals verabschiedete »Agentengesetz« scharf und bezeichnete es als rechtswidrig und amoralisch. Diese Stellungnahme galt den Behörden später als eine Grundlage zur Einstufung von Memorial als »Agent«. Eigentlich ist das »Agentengesetz« auf Memorial International nicht anwendbar, da es sich nicht um eine russische NGO handelt; für internationale Organisationen gelten andere Regeln, sie können etwa für »unerwünscht« erklärt werden. Folgt man der Argumentation des Generalstaatsanwalts, belegt die damalige negative Reaktion von Memorial auf das Gesetz, dass sich die Organisation bei späteren Publikationen vorsätzlich geweigert hat, ihren Agentenstatus kennt­lich zu machen.

Pro forma kämpfte sich Richterin Na­sarowa dennoch durch die ihr vorliegenden Beweismittel, auch wenn diese sie gelegentlich auf eine falsche Fährte führten. So enthalten Gerichtsprotokolle über Strafzahlungen fälschlich Angaben über das Menschenrechtszen­trum von Memorial, eine NGO, die sich mit politischer Verfolgung im heutigen Russland auseinandersetzt. Ein und dasselbe Gericht verhängte Bußgelder gegen beide Organisationen und kopierte Inhalte per Mausklick, offenbar ohne diese einer weiteren Prüfung zu unterziehen. Für russische Justizbehörden ist das kein ungewöhnliches Vorgehen.

Gegen das Menschenrechtszentrum von Memorial läuft derweil ebenfalls ein Prozess mit dem Ziel, die Organisation aufzulösen; allerdings fällt dieser in die Zuständigkeit des Moskauer Stadtgerichts. Die Vorverhandlung hat ebenfalls im November begonnen, am 23.Dezember könnte ein Urteil fallen. Hier geht es nicht nur um die Kenntlichmachung des Agentenstatus, sondern auch um den Vorwurf der Rechtfertigung von Terrorismus und Extremismus.

Dieser Vorwurf bezieht sich auf eine von Memorial auf seiner Website veröffentlichte Liste politischer Gefangener mit über 400 Namen. Darunter finden sich Zeugen Jehovas, deren Glaubensgemeinschaft in Russland 2017 als extremistische Organisation verboten wurde, Anhänger verbotener islamistischer Gruppierungen, aber auch etliche Personen, die teils hohe Haftstrafen absitzen, obwohl die Beweislage so dürftig war, dass sie vor einem minimal angerechter Aufklärung interessierten Gericht keinen Bestand gehabt hätte. Wer die Rechtmäßigkeit von Urteilen bei extremistischen Straf­tatbeständen anzweifelt, outet sich als Sympathisant – das besagt die Anklage gegen Memorial implizit. Formal exis­tiert kein russisches Gesetz, das die Kritik an einem Gerichtsurteil verbietet.

Viele Bußgelder gegen das Menschenrechtszentrum wurden auf Initiative des Inlandsgeheimdiensts FSB in der Nordkaukasusrepublik Inguschetien verhängt. Im Frühjahr 2019 beteiligten sich dort Tausende an Protesten gegen eine Veränderung des Verlaufs der Grenze zum benachbarten Tschetschenien. Der friedliche Protest wurde durch Polizeigewalt aufgelöst. In der vergangenen Woche wurden sieben Beschuldigte, an denen der Staatsschutz offenbar ein Exempel statuieren wollte, zu Haftstrafen zwischen siebeneinhalb und neun Jahren verurteilt. Das Gericht befand, Sarifa Sautiewa, die einzige Frau unter ihnen, habe allein durch ihre Anwesenheit bei der Kundgebung andere dazu aufgefordert, sie als »Vertreterin des schwachen Geschlechts« um jeden Preis zu schützen. Alle sieben Verurteilten führt Memorial in der Liste politischer Gefangener auf.

Alexander Tscherkasow, Vorsitzender des Menschenrechtszentrums Memorial, betont im Gespräch mit der Jungle World, dass seine Organisation von den Behörden im Nordkaukasus nie gerne gesehen war. 2019 kam es in Inguschetien zu einem Machtwechsel, im Zuge dessen die neue Führung jegliche Aktivitäten der Zivilgesellschaft de facto zu unterbinden versuchte. »Wir haben es hier mit der Logik und der Logistik eines trägen bürokratischen Apparates zu tun«, sagt Tscherkasow. Dahinter stehe ein ganzes System, das Verfolgungen nicht als rein politisches, sondern bürokratisches Phänomen erscheinen ließe, dessen kausale Zusammenhänge sich nicht immer unmittelbar erschlössen.

Bei einem Treffen von Präsident Wladimir Putin mit Mitgliedern des Menschenrechtsrats – einem von ihm 2004 per Erlass geschaffenen beratenden Gremium – Anfang Dezember ging es auch um die beiden Verfahren gegen Memorial. Putin folgte in dem Gespräch der Argumentation der Anklage.