Magnus Carlsen bleibt Schachweltmeister 

Wenig erforschtes Terrain

Erneut würde Carlsen den Titel allerdings wohl nur verteidigen, wenn sein Gegner Alireza Firouzja hieße.

Die Schachweltmeisterschaft 2021 hat ein vorzeitiges Ende gefunden. Der Norweger Magnus Carlsen konnte seinen russischen Kontrahenten Ian Nepomnjaschtschij deutlich mit 7,5 zu 3,5 schlagen, nachdem nur elf der 14 möglichen Begegnungen gespielt waren. Doch auch nach dem frühen Ende lohnt sich ein Rückblick auf diese außerordentliche Weltmeisterschaft.

Magnus Carlsens Sieg ist auch ein Sieg gegen das optimierte Schach der Computer mit seiner starken Tendenz zum Remis.

Zunächst zum Spielerischen: Die Kommentatorinnen und Kommentatoren sind sich relativ einig, dass die ersten sechs Spiele, vor Nepom­njasch­tschijs zahlreichen Patzern, von herausragender Qualität waren. Bereits in dieser Phase zeichnete sich eine bemerkenswerte Verschiebung in Carlsens Eröffnungsrepertoire ab. Der Titelverteidiger wählte immer wieder suboptimale Neben­linien, die ihm eigentlich einen Stellungsnachteil brachten, aber das Spiel schnell auf wenig erforschtes Terrain führten. »How Carlsen won chess back from the machines«, betitelte der Guardian leicht sensationalistisch seinen Podcast mit der WM-Analyse. Das ist so natürlich nicht haltbar, allerdings drückt sich darin eine allgemeine Müdigkeit gegenüber dem optimierten Schach der Computer aus, das eine starke Tendenz zum Remis mit sich bringt. Carlsens subtile Verschiebungen trugen auf jeden Fall zum Unterhaltungswert der Partien bei.

Zum Austragungsort: Die WM fand als kleine Fußnote im Kontext der Expo 2020 in der Ölmetropole Dubai statt, die pandemiebedingt auf dieses Jahr verschoben worden war. 192 Länder stellen dort in eigenen Bereichen vor allem technologische Neuerungen oder Konzeptionen aus; die wenigsten Besucherinnen und Besucher dürften mitbekommen haben, dass auf dem Gelände gerade ein sportliches Großereignis stattfand. Die diesjährige Expo steht unter Motto »Connecting Minds, Creating the Future« und soll einen Schwerpunkt im Thema Nachhaltigkeit haben. Entsprechend dreht sich vieles um erneuerbare Energien und klima­freundlichere Mobilität. Das wirkt nachgerade zynisch in einer Stadt, die dafür bekannt ist, mit ihren künstliche aufgeschütteten Inseln ganze Korallenriffe zu zerstören und zwar das höchste Gebäude der Welt zu besitzen, aber keine funktionierende Kanalisation.

Hinzu kommen die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, ins­besondere an ausländischen Arbeitskräften, welche fast 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Allein im Rahmen der Expo bauten 200 000 von ihnen unter miserabelsten Arbeitsbedingungen das riesige Gelände und die ausgedehnte Infrastruktur auf. Sie hatten unter unregulierten Arbeitsverhältnissen und ­extremen Arbeitszeiten zu leiden, zudem wurden ihnen arbeitsrelevante Dokumente nicht übersetzt und Pässe konfisziert. Dies und die schwierige Menschenrechtslage allgemein führten vor der Expo sogar zu einem offiziellen Boykottaufruf des Europäischen Parlaments, den freilich kein einziges Mitgliedsland befolgte.

Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), denen Dubai angehört, erhoffen sich von der Expo Impulse für die leicht kriselnde Wirtschaft und wollen ihr Image als modernste und neuerdings auch am nachhaltigsten wirtschaftende Macht im arabischen Raum aufpolieren.

Die Schachweltmeisterschaft spielte bei der Vermarktung der Expo allerdings nur eine sehr kleine Rolle. Die verhältnismäßig niedrigen Preisgelder in Höhe von zwei Millionen US-Dollar stellte der russische Düngemittelhersteller Phosagro allein, die VAE beteiligten sich also nicht am Sponsoring. Allgemein scheint der internationale Schachverband Fide an Einfluss zu verlieren und nur noch schwer Sponsoren gewinnen zu können, obwohl die WM sehr viele Zuschauer erreichte und die Partien teils auf den ersten Platz des Live-Streaming-Videoportals Twitch kletterten.

Trotz des großen öffentlichen Interesses scheint das Format der Schachweltmeisterschaft angekratzt. Der neue und alte Weltmeister sorgte mit der Aussage für große Aufmerksamkeit, dies werde wahrscheinlich seine letzte WM sein. Wenn allerdings Alireza Firouzja das Kandidatenturnier 2022 gewinnen sollte, wäre Carlsen bereit, den Titel gegen ihn zu verteidigen. Es wäre falsch, dies allein mit einer gewissen Arroganz des Norwegers gegenüber den anderen Spielern der Weltspitze zu erklären. Er selbst führt als Gründe vielmehr an, dass zum einen die Vorbereitung extrem intensiv und zum anderen der mehrwöchige Zweikampf äußerst anstrengend und zeitaufwendig sei und es ihm dadurch häufig an der nötigen Motivation mangele. Weitere Titelverteidigungen würden Carlsens herausragende Stellung als vermutlich bester Spieler aller Zeiten kaum weiter festigen können, schließlich dominiert er seit mehr als zehn Jahren das Spitzenfeld deutlich. Sollte er tatsächlich von seinem Titel zurücktreten, würde das nicht seine Bedeutung schmälern, sondern die des Weltmeistertitels.

Statt neuer Titelverteidigungen bekundete Carlsen vor wenigen Tagen, als erster Spieler überhaupt die Elo-Zahl von 2 900 erreichen zu wollen. Das ist fast unmöglich, denn Elo-Punkte werden aus der Differenz von Erwartungswert und Ergebnis eines Spiels errechnet. Das heißt, gegen Spieler mit einer (wesentlich) niedrigeren Wertungszahl kann man nur wenige Punkte hinzugewinnen. Da Carlsen bereits mit Abstand die höchste Wertung überhaupt hat, erhöhen selbst Siege über die besten Spieler sein Rating kaum und bei einem Remis kann er sogar Punkte verlieren. Gegenwärtig ist er einer von nur zwei Spielern mit einer Elo-Zahl von über 2 800.

Der zweite ist der erwähnte Alireza Firouzja. Der 18jährige ist der neue aufstrebende Star im Schach und der jüngste Spieler, der jemals die Elo-Zahl von 2 800 überschritten hat. Der gebürtige Iraner entschied sich schon 2019, unter neutraler Flagge zu spielen, um auch gegen Israelis antreten zu können. Seit kurzem ist Firouzja französischer Staatsbürger und seither auch Mitglied des französischen Schachverbands und der Nationalmannschaft. In Letzterer übernahm er sofort die Führung mit überragenden Erfolgen bei den ­Europa-Mannschaftsmeisterschaften im November am ersten Brett. Sein rasanter Aufstieg auf den zweiten Weltranglistenplatz beeindruckte offenbar auch Magnus Carlsen sehr, der bereits vor der WM mitteilte, dass ihn gegenwärtig nichts so sehr motiviere wie Firouzjas Erfolge.

Dass der junge Schachstar das Kandidatenturnier gewinnt, ist selbstverständlich trotzdem nicht sicher. Die Konkurrenz ist beachtlich, und nicht immer setzt sich der beste Spieler im Turnier durch. Sollte Carlsen tatsächlich nicht mehr antreten wollen, würde die Weltmeisterschaft vermutlich zwischen dem Erst- und Zweitplatzierten des Kandidatenturniers ausgetragen. Dieses soll der ­Fide-Website zufolge »wahrscheinlich im Juni 2022« stattfinden; wo und in welchem Austragungsmodus, steht noch nicht fest. Neben fünf weiteren Spielern konnte sich Firouzja durch seinen Sieg im Grand-Swiss-Turnier im November bereits dafür qualifizieren. Aufregend wird sicher auch das von Februar bis April in Berlin und Belgrad stattfindende Grand-Prix-Turnier, bei dem man sich für die verbliebenen beiden freien Plätze des Kandidatenturniers qualifizieren kann.