Machtkampf und Mord­anschläge in Haiti

Die Liste des Präsidenten

Der Anschlag auf den haitianischen Interimspremierminister Ariel Henry zeugt von einem undurchsichtigen Machtkampf ein halbes Jahr nach der Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse. Der Hintergrund des Attentats im Juli ist immer noch unklar, der Prozess gegen einen kolumbianischen Söldner in den USA könnte zur Aufklärung beitragen.

Am 1. Januar feierte Haiti seine Unabhängigkeit, in diesem Jahr zum 218. Mal. Dass es derzeit wenig zu feiern gibt, ­bekam in Gonaïves im Norden des Landes auch Interimspremierminister Ariel Henry zu spüren. Ein in den sozialen Medien verbreitetes Video zeigt, wie Henry und seine Begleiter beim Verlassen eines Gebäudes unter Beschuss ­geraten und wie er abgeschirmt und geduckt zum Auto flieht, während Ordnungskräfte das Feuer erwidern. Das Büro des kommissarischen Staats- und Regierungschefs verkündete zwei Tage später, Henry sei einem Mordanschlag von »Banditen und Terroristen« entkommen. Wer hinter dem Angriff steckt, ist unklar, doch hatten lokale Gangs in den Tagen zuvor Henry davor gewarnt, nach Gonaïves zu kommen. Berichten haitianischer Medien zufolge kam eine Person ums Leben, zwei weitere wurden verletzt.

Nur wenige Tage nach dem Angriff auf Henry wurden südlich der Hauptstadt Port-au-Prince zwei Journalisten tot aufgefunden. Die Region ist besonders stark von Entführungen und Gewaltverbrechen betroffen. Amady John Wesley und Wilguens Louissaint sollen zu Sicherheitsfragen recherchiert haben und wurden der Polizei zufolge mit großkalibrigen Waffen getötet, ein dritter Journalist, Wilmann Vil, kam knapp davon.

Henry steht unter Verdacht, an der Ermordung Präsident Moïses – der ihn kurz vor seinem Tod zum Premierminister ernannt hatte – beteiligt gewesen zu sein.

Egal, ob es sich bei dem Angriff auf Henry um einen Mordversuch handelte oder in erster Linie um eine Machtdemonstration – beide Vorfälle verdeutlichen erneut, wie mächtig die Gangs und wie schwach die staatlichen Institutionen sind. Seit Jahren kontrollieren die Gangs große Gebiete der Hauptstadt und überziehen das Land mit Entführungen. Für internationale Schlagzeilen sorgte der Fall einer Gruppe nordamerikanischer Missionare, die Mitte Oktober entführt wurde. Nachdem es wochenlang still um die Entführten geblieben war, kamen sie im Dezember frei.

Insbesondere seit der Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse im Juli vorigen Jahres scheinen die Gangs die politische Instabilität zu nutzen, um ihre Position weiter zu stärken. Zugleich versuchen sie, ihre Einnahmen durch Entführungen zu steigern, während die Wirtschaft des Landes am Boden liegt. Sie gerieren sich teilweise als »Revolutionäre«, etwa wenn sie Treibstoffdepots im Hafen blockieren und Tankwagen überfallen, um mit einer Treibstoffblockade Henry zum Rücktritt zu zwingen.

Dessen Legitimität ist gering. Nicht nur, weil er die Amtsgeschäfte infolge eines machtpolitischen Gerangels nach Moïses Tod übernahm, den erst ein Machtwort nordamerikanischer und europäischer Diplomaten zu seinen Gunsten entschied. Henry steht außerdem unter Verdacht, an der Ermordung Moïses – der ihn kurz vor seinem Tod zum Premierminister ernannt ­hatte – beteiligt gewesen zu sein.

Am 6. Januar legte das Réseau National de Défense des Droits Humains (RNDDH) einen Bericht vor, der den Ermittlungsstand im Fall Moïse zusammenfasst und Ermittlungslücken sowie Verzögerungen durch die Behörden kritisiert. Die Verfasser schreiben, das Attentat sei einem »fein ausgearbeiteten Plan« gefolgt. Zu diesem Zweck sollen mehrere Treffen in Port-au-Prince, Delmas und Pétionville stattgefunden haben. Ob es hierbei darum ging, Moïse abzusetzen und ins Exil zu zwingen oder ihn zu ermorden, ist nicht klar. An diesen Treffen sollen auch Politiker teilgenommen haben, die sich Chancen auf die Nachfolge ausrechneten.

Zudem gibt es dem Bericht zufolge Mitschnitte zahlreicher belastender Telefonate. Als zentrale Figur erscheint dabei der Justizbeamte Joseph Félix Badio, der als Koordinator fungiert haben soll. Unter anderem soll er mit Ariel Henry telefoniert haben, die letzten beiden Male in der Mordnacht – dieser ­behauptet, sich daran nicht zu erinnern. Badio soll unmittelbar nach der Ermordung Moïses am Tatort aufgetaucht sein und Geld sowie Dokumente entwendet haben.

Dem Bericht zufolge telefonierte Badio regelmäßig mit dem ehemaligen Polizeioffizier Marie Jude Gilbert Dragon, der Informationen über Moïse lieferte und das Kommando, das in der fraglichen Nacht in die Residenz des Präsidenten eindrang, mit Emblemen der US-amerikanischen Drug Enforcement Agency (DEA) versorgte. Dragon war einer der 44 kurz nach dem Attentat Verhafteten und verstarb im November mutmaßlich an einer Atemwegserkrankung.

Zu dem Netzwerk gehörten auch Mitglieder der für die Sicherheit des Präsidenten zuständigen Polizei. Diese wurden bestochen und hochrangige Sicherheitsbeamte ignorierten in der Mordnacht Hilferufe des Präsidenten. Einige der bestochenen Präsidentenwachen gaben jedoch an, geglaubt zu haben, es sei lediglich darum gegangen, Moïse ins Exil zu zwingen.

Eine Version, die anscheinend auch viele derjenigen glauben, die als Mitglieder eines aus gut zwei Dutzend Männern bestehenden Kommandos in der fraglichen Nacht in Moïses Haus eindrangen. Sie waren allesamt zwischen Januar und Juni 2021 nach Haiti eingereist, 22 waren kolumbianische Staatsangehörige, meist ehemalige Soldaten. Die meisten waren von einer US-amerikanischen Sicherheitsfirma namens Counter Terrorist Unit (CTU) angeheuert worden – eigenen Angaben zufolge mit dem Auftrag, haitianische Offizielle zu schützen. In den Tagen nach dem Attentat nahm die haitianische Polizei die meisten von ihnen fest, einige wurden getötet. Zunächst gestanden manche den Mord, sie gaben später ­jedoch an, die Aussagen unter Folter gemacht zu haben. Einige gaben gar zu Protokoll, ihnen sei gesagt worden, die Operation habe den Segen der US-amerikanischen Regierung – worauf es bisher keine Hinweise gibt, obschon die USA seit über 100 Jahren entscheidenden Einfluss auf die haitianische Politik nehmen.

Einem der kolumbianischen Söldner gelang die Flucht nach Jamaika: Mario Antonio Palacios soll als einer der ersten in der Residenz des Präsidenten gewesen sein. In einem Interview behauptete er, dieser sei bereits tot gewesen, als er mit seiner Gruppe in die Residenz eindrang. Die jamaikanischen Behörden nahmen Palacios wegen Verstoßes gegen das Einwanderungsrecht fest. Später erklärte er sich bereit, mit dem US-amerikanischen FBI zu kooperieren. Die haitianischen Behörden arbeiten eng mit US-amerikanischen und kolumbianischen Institutionen zusammen. Da zwischen Jamaika und Haiti kein Auslieferungsabkommen besteht, sollte Palacios nach Kolumbien abgeschoben werden. Am vorvergangenen Montag wurde er bei einem Zwischenstopp in Panama verhaftet und in die USA gebracht, wo ihm nun der Prozess unter anderem wegen Verschwörung zu Mord oder Entführung außerhalb der Ver­einigten Staaten gemacht werden soll.

Dieser Prozess könnte helfen, die Umstände von Moïses Tod etwas aufzuklären. In Haiti sind die Ermittlungen ins Stocken geraten, wie das RNDDH in seinem Bericht kritisiert. Seit die Polizei Anfang August ihre Ermittlungsergebnisse an die Justiz übergeben hat, ist nicht viel passiert. Dem zuständigen Richter Garry Orélien wirft das RNDDH vor, das Verfahren zu verschleppen.

Wer auch immer die Schüsse auf Moïse abgegeben hat, die Söldner oder gar die bestochene Präsidentengarde – unklar bleibt, wer den Auftrag gab. Da es nicht zu einem Putsch kam, ist eine alleinige politische Motivation unwahrscheinlich.

Mitte Dezember veröffentliche die New York Times (NYT) einen Bericht, wonach Jovenel Moïse in den Monaten vor seiner Ermordung eine Liste mit Namen von Politikern und Geschäftsleuten hatte erstellen lassen, die in den Drogenhandel verwickelt sind. Dieses Dokument sei für die US-Behörden bestimmt gewesen. Moïse, der immer autoritärer regierte und kaum gesellschaftlichen Rückhalt hatte, zählte die USA zu seinen wichtigsten Verbündeten. Der NYT zufolge sollen auf der Liste auch jene genannt worden sein, die Moïse einst zu Macht verholfen hatten, wie Charles Saint-Rémy, ein Geschäftsmann, den die US-Drogenbehörde DEA schon länger verdächtigt, in Schmuggel verwickelt zu sein. Zudem ist Saint-Rémy der Schwager von Michel Martelly, Moïses Amtsvorgänger und politischer Ziehvater, der einst auf Druck der USA ins Amt gekommen war. Offenbar ging es zumindest einem Teil der Verschwörer darum, diese Liste zu finden. Als die Polizei am Tatort eintraf, war Moïses Haus verwüstet. Dazu passt, dass Badio – einst selbst Informant der DEA – Dokumente entwendet haben soll und noch nicht gefasst wurde. ­Aussagen des jüngst von der NYT ausfindig gemachten, am Komplott be­teiligten Rodolphe Jaar zufolge soll Badio noch nach dem Mord Henry in ­dessen Haus besucht haben.

Möglich ist, dass politische und kriminelle Gruppen bei dem Anschlag auf Moïse zusammenarbeiteten, sich dabei gegenseitig etwas vormachten und am Ende versuchten, einander auszubooten. Die einen versuchten, selbst ins Zentrum der Macht zu kommen, die anderen, eben dieses Zentrum dauerhaft zu schwächen. Das könnte den nun eskalierenden Machtkampf zwischen dem politischen Profiteur Henry, der als neuer starker Mann auftritt, und den Gangs erklären.