Vor 80 Jahren verübte die ungarische Gendarmerie in Novi Sad ein Massaker an ­Juden und Serben

Geschichte unter Eis

Die an der Donau gelegene nordserbische Stadt Novi Sad ist eine von drei Kulturhauptstädten des Jahres 2022. Vor 80 Jahren war sie Schauplatz eines ungeheuren Kriegsverbrechens. In Ungarn möchte man daran nicht so gerne erinnert werden.

Die ungarische Gedenkpolitik versucht immer wieder, die Verantwortung für die Geschehnisse in der Zeit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs zu leugnen oder zu relativieren. So auch im Fall des Massakers von Novi Sad. Doch das von Ungarn vor 80 Jahren in der heute größtenteils zu Serbien gehörenden Batschka begangene Verbrechen an Serben und Juden datiert vor der Besetzung Ungarns im März 1944. Bei dem Kriegsverbrechen von Novi Sad hatten ungarische Polizei- und Armeeeinheiten vom 21. bis 23. Januar 1942 über 1 000 Zivilisten getötet und in die Donau geworfen. Nicht nur an die Gräueltaten selbst gilt es zu erinnern, sondern auch an die Vorgeschichte, die revisionistische Historiker umschreiben möchten.

Auf Drängen Deutschlands war Jugoslawien am 25. März 1941 dem Dreimächtepakt beigetreten, am nächsten Tag putschte die jugoslawische Armee dagegen. Da Hitler mit den Vorbereitungen auf den Krieg mit der Sowjetunion beschäftigt war und auch das Problem der italienischen Niederlagen im Krieg mit Griechenland lösen wollte, wurde kurzfristig ein Blitzkrieg gegen ­Jugoslawien und Griechenland geplant. Von Ungarn wurde gefordert, sich zu beteiligen. Dabei hatte die ungarische Regierung unter Ministerpräsident Pál Teleki im November 1940 den »Vertrag über die ewige Freundschaft« mit Jugoslawien ­unterzeichnet, was den um eine neutrale Außenpolitik bemühten Ministerpräsidenten in einen Konflikt stürzte: Wenn er sich den Forde­rungen Hitlers widersetzte, würde er keine weiteren ehemals ungarischen Gebiete zurückbekommen; wenn er das Angebot annahm, ­riskierte er einen Konflikt mit Großbritannien. Dazu kam die moralische Frage der Verletzung des Freundschaftspaktes mit Jugoslawien. Der katholische Ministerpräsident, der keinen Ausweg aus der für ihn unlösbar gewordenen Situation sah, beging am 3. April Selbstmord.

Neuerdings gibt es wieder Versuche, die Schuldfrage neu zu diskutieren. Daran beteiligt ist der ungarische Historiker Sándor Szakály, der von der Regierung unter Viktor Orbán zum Leiter des Historischen Instituts Veritas ernannt wurde.

Sein Nachfolger László Bárdossy hatte keine Bedenken, mit den Deutschen zu paktieren. Denn obwohl Ungarn 1939 nicht am Krieg gegen Polen teilgenommen hatte, konnte es einen Teil der 1918 verlorenen Gebiete durch die enge Freundschaft mit Deutschland zurückgewinnen. Mitte April 1941 beteiligten sich ­ungarische Truppen an der Aufteilung Jugoslawiens und eroberten unter anderem die Batschka, in der auch Novi Sad liegt, eine Region mit sehr gemischter Bevölkerung, darunter Ungarn, Serben, Kroaten, Deutsche, Slowaken, Russen, Roma und Juden.

Gleich am Anfang der Besetzung kam es zu einem Massaker im Dorf Temerin, wo die einziehenden Ungarn über 100 Serben massakrierten, obgleich diese weiße Fahnen geschwenkt hatten. Zehntausende Serben, die nach 1918 in die Batschka gezogen waren, wurden in das deutsch besetzte Serbien ausgewiesen, viele Tausende Ungarn angesiedelt.

Nach der deutschen Niederlage vor Moskau besuchte der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop Anfang Januar 1942 Budapest und forderte die Beteiligung der ganzen ungarischen Armee am Krieg gegen die Sowjetunion und die Legalisierung der bis dahin stillschweigend geduldeten Rekrutierung der sogenannten Volksdeutschen zur Waffen-SS. Dieser Forderung stimmte Ungarn zu, wandte jedoch ein, dass die Armee zur Bekämpfung der aus dem von Deutschen besetzten Gebiet einge­sickerten Partisanen gebraucht werde. Erst nach dem Angriff auf die Sowjetunion organisierte die jugoslawische KP eine Partisanenbewegung, die trotz vieler Hinrichtungen und Inhaftierungen nicht zur Aufgabe gebracht werden konnte.

In der Folge kam es nach einer Vereinbarung mit der Wehrmacht zu ­einer koordinierten Aktion, um in der Batschka »Ordnung zu schaffen«. Die ungarischen Truppen wüteten von Anfang an. Ganze serbische Familien wurden ausgeraubt, ermordet und in den zugefrorenen Flüssen Theiß und Donau versenkt. Dazu wurden eigens Löcher ins Eis geschlagen, in die die Toten hinabgestoßen wurden. Allein in Zsablya und Csúrog, um nur die beiden am stärksten heimgesuchten Dörfer zu nennen, gab es mindestens 1 540 meist serbische Opfer der Operation, ­darunter 265 Frauen, 43 Kinder und 143 ältere Menschen.

Am 12. Januar 1942 informierte der in der Batschka kommandierende Generalleutnant Ferenc Feketehalmy-Czeydner seine Vorgesetzten fälsch­licherweise darüber, dass die Partisanen sich nach Novi Sad (auf Ungarisch: Újvidék) zurückgezogen hätten. Am 20. Januar schlossen ungarische Truppen die Stadt ein, das Kriegsrecht wurde verkündet und die Telefonleitungen wurde gekappt. Am 21. Januar begann ein Massaker der ungarischen Armee-, Grenzschutz- und Gendarmerietruppen, das bis zum 23. Januar dauerte.

Am ersten Tag wurden wahllos Personen zum Donauufer gebracht und hingerichtet. Oberst József Grassy ermutigte seine Untergebenen und betonte, dass es sich um »Vergeltung« handle. Er befahl, »die Straßen mit Maschinengewehren zu beschießen« und »den ganzen Dreck in der Stadt zu beseitigen, der muss in der Donau schwimmen«. Mit dem Ergebnis des ersten Tages, mit den 50 bis 60 Toten, waren Fe­ketehalmy-Czeydner und Grassy nicht zufrieden.

Am 22. Januar wurde das Massaker fortgesetzt. Zur Aufrechterhaltung der »Kampfeslust« wurde eine »falsche Partisanenschlacht« mit serbischen Waffen und Handgranaten neben zwei zivilen Leichen inszeniert und reichlich Rum verteilt. Feketehalmy-Czeydner erklärte ganz offen, dass er »Leichen« sehen wollte. Die zusammengetriebenen Opfer mussten sich am Donauufer bei Tempe­raturen von minus 20 Grad nackt ausziehen und wurden mit Maschinengewehren niedergemäht, Menschen wurden in ihren Wohnungen und auf offener Straße erschossen. 800 Juden und 700 Serben starben.

Nach Protesten des ungarischen Bürgermeisters von Novi Sad gab Oberst Grassy am Abend des 23. Januar um 21 Uhr den Befehl, das Morden zu beenden. Aber er drohte der Stadt mit Vergeltungsaktionen, falls ein weiteres »feindliches Gewehr abgefeuert wird« oder ein »Partisanen- oder sonstiges antinationales Komplott gegen den ungarischen Staat« stattfände. In den folgenden Tagen kam es zu weiteren Razzien in der Umgebung, bis Generalstabschef ­Ferenc Szombathelyi am 30. Januar 1942 die Aktion einstellen ließ.

Die Zahl der Opfer in der Batschka wird von Historikern mit 4 000 beziffert, von denen 1 250 Juden waren. Unter den Opfern gab es 792 Frauen und 147 Kinder.

Die Nachrichten über das Massaker schlugen im In- und Ausland hohe Wellen. Ungarische Oppositionelle protestierten und forderten eine ­Untersuchung. Der Abgeordnete Endre Bajcsy-Zsilinsky intervenierte wiederholt im Parlament und legte am 4. Februar 1942 dem faktischen Staatsoberhaupt (»Reichsverweser«) Miklós Horthy ein 25 Seiten langes Memorandum vor. Horthy ließ die begonnenen Ermittlungen eines ­Militärrichters gegen Armeeangehörige einstellen, um die »Ehre der ­Armee« nicht zu beflecken. Feketehalmy-Czeydner und Grassy wurden pensioniert.

Nach dem italienischen Waffenstillstand mit den Alliierten im Oktober 1943 wurden die Ermittlungen gegen Feketehalmy-Czeydner und dessen Komplizen wiederaufgenommen. Die Militärstaatsanwaltschaft legte schließlich eine Anklageschrift gegen die Verantwortlichen für die Massaker vor, auf deren Grundlage am 14. Dezember 1943 die Haupt­verhandlung begann. Die Hauptangeklagten wurden jedoch nicht verhaftet und konnten im Januar 1944 über die Besitzung von Erzherzog Albrecht Habsburg nach Deutschland fliehen, wo sie von Hitler persönlich politisches Asyl erhielten. Sie kehrten zwei Monate später in SS-Uniformen zurück nach Ungarn und beteiligten sich an der Deportation von Juden.

Im März 1946 wurden die Hauptbeschuldigten vom Budapester Volksgericht zum Tod verurteilt und an ­Jugoslawien ausgeliefert. Am 24. Oktober 1946 begann in Novi Sad der Prozess gegen neun Beschuldigte. Sechs Tage später wurden sie zum Tod verurteilt und bald darauf hingerichtet.

Neuerdings gibt es allerdings wieder Versuche, die Schuldfrage neu zu diskutieren. Daran beteiligt ist der ungarische Historiker Sándor Sza­kály, der von der Regierung unter Viktor Orbán zum Leiter des Historischen Instituts Veritas ernannt wurde. Er erklärt die Massaker zu ­einem Kollateralschaden der Geschichte. »Nach der Rückkehr der Batschka«, so der Historiker über die 1941 von Ungarn annektierten Gebiete, »wurden die serbischen Parti­sanenaktionen verstärkt, da sie die Angliederung des Gebiets an Ungarn nicht akzeptierten. Um dem Einhalt zu gebieten, führten die ungarischen Verteidigungskräfte eine Razzia durch, die auch den Tod unschuldiger Menschen zur Folge hatte.« Szakály ist auch unermüdlich dabei, die königlich-ungarischen Gendarmerie zu rehabilitieren, die 1944 die Deportationen der ungarischen Juden nach Auschwitz abwickelte.

Die Geschichte ist eine mächtige Waffe. Besonders gefährlich ist sie in den Händen von Chauvinisten, die sie umschreiben wollen. Gewissenhafte Historiker treten dem entgegen, damit die Katastrophen nicht bagatellisiert werden können. In Novi Sad erinnert ein Denkmal an das Massaker, vor dem jährlich im ­Januar eine Gedenkveranstaltung stattfindet.