Vor 50 Jahren erging der »Radikalenerlass«

Die schwarze Berufsverbotsprovinz

Vor 50 Jahren wurde der sogenannte Radikalenerlass beschlossen. Die baden-württembergische Landesregierung setzte diesen besonders scharf ins Werk.

Bereits vor einem Jahr bezeichnete einer der bekanntesten Journalisten dieses Landes den sogenannten Radikalenerlass als »eines der folgenreichsten Desaster der alten Bundesrepublik«. Es war Heribert Prantl, der in der Süddeutschen Zeitung rhetorisch fragte: »Soll er nach 50 Jahren offiziell aufgehoben werden? Müssen Opfer von Berufsverboten rehabilitiert werden?«

Am 28. Januar 1972 beschlossen der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und die Ministerpräsidenten der Länder den Erlass zur »Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst« – den Radikalenerlass. Auf dessen Grundlage richteten Behörden bei Bewerbungsverfahren eine Anfrage zum Bewerber, die sogenannte Regelanfrage, an den Verfassungsschutz. Auch einige bereits eingestellte Personen wurden überprüft, manche von ihnen wurden entlassen. 1991 stellten Bayern und Baden-Württemberg die Regelanfrage als letzte Bundesländer wieder ein. Von 1972 bis 1991 wurden wegen des Radikalenerlasses rund 1 250 Bewerber für den öffentlichen Dienst nicht eingestellt, erhielten also Berufsverbot.

Wegen des Radikalenerlasses wurden von 1972 bis 1991 rund 1 250 Bewerber für den öffent­lichen Dienst nicht eingestellt.

Prantl hoffte vor einem Jahr noch auf eine schwarz-grüne Bundesregierung, denn diese könne die »Linken in der grünen Partei mit der ›bürgerlichen‹ ­Koalition versöhnen«, sofern sie Personen rehabilitiere, für die infolge des Radikalenerlasses ein Berufsverbot verhängt wurde. Schließlich zähle der »Kampf gegen die Berufsverbote zur grünen Ur-Identität«.

Nicht allein ein Blick zurück auf die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD, 1998–2005) hätte Prantl zeigen können, was es mit der »grünen Ur-Identität« auf sich hat, wenn die Grünen erst einmal regieren. Seit 2011 führt die Partei in Baden-Württemberg die Regierung, bis 2016 mit der SPD, seither mit der CDU. Ministerpräsident Winfried Kretschmann engagierte sich in den siebziger Jahren an der Universität Hohenheim in Stuttgart in der Hochschulgruppe des maoistischen Kommunistischen Bunds Westdeutschland (KBW). Nach dem zweiten Staatsexamen für das Lehramt in Chemie und Biologie durfte er wegen des Radikalenerlasses zunächst nicht an einer staatlichen Schule unterrichten.

Die grün-rote Landesregierung trug nichts zur Aufarbeitung des Erlasses bei, erst die Landesregierung aus Grünen und CDU beschloss 2016, ein Forschungsprojekt zu dessen Geschichte zu finanzieren. 2019 wurde am Lehrstuhl für Zeitgeschichte des Historischen Seminars der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg das auf drei Jahre angelegte Projekt »Verfassungsfeinde im Land? Baden-Württemberg, ’68 und der ›Radikalenerlass‹ (1968–2018)« eingerichtet, das vom baden-württembergischen Wissenschaftsministerium mit rund 250 000 Euro gefördert wird.

Der Föderalismus ermöglichte jedem Bundesland weitgehende Eigenständigkeit bei der, wie es in einem von dem Forschungsprojekt veröffentlichten Text heißt, »Akzentuierung des bestehenden Beamtenrechts«. Diese Akzentuierung, also die Umsetzung des Erlasses, unterschied sich stark von Bundesland zu Bundesland.

Baden-Württemberg, dies konnten die Forscher bereits zur Halbzeit des Projekts feststellen, gehörte von Anfang an zu den Bundesländern, in denen der Erlass besonders scharf ins Werk gesetzt wurde. Kritiker bezeichneten das Bundesland seinerzeit als »schwarze Berufsverbotsprovinz«. Der Ausdruck »braune Berufsverbotsprovinz« wäre möglicherweise treffender: Von 1966 bis 1978 war Hans Filbinger (CDU) Ministerpräsident von Baden-Württemberg, 1976 holte er mit dem Wahlslogan »Freiheit oder Sozialismus« mit 56,7 Prozent das beste Landtagswahlergebnis der CDU in der Geschichte der alten Bundesrepublik.
1978 verschaffte der Dramatiker Rolf Hochhuth Filbingers nationalsozialistischer Vergangenheit öffentliche Aufmerksamkeit. In seinem Text »Eine Liebe in Deutschland« behandelt er Filbingers Tätigkeit als Marinestabsrichter von 1943 bis 1945 und bezeichnet diesen als »furchtbaren Juristen«. Im selben Jahr wurden vier Todesurteile bekannt, die Filbinger in dieser Zeit gefällt oder beantragt hatte. Im Mai desselben Jahres sagte er im Gespräch mit dem Spiegel: »Was damals rechtens war, das kann heute nicht Unrecht sein.« Damit war er als Ministerpräsident nicht mehr tragbar, im August 1978 trat er ­zurück.

Wichtigster Unterstützer Filbingers bei dessen Bestrebungen, einen »wirksamen Schutz des Staates vor Verfassungsfeinden« im öffentlichen Dienst zu gewährleisten, wie es in einer im Frühjahr 1974 veröffentlichten Pressemitteilung der Landesregierung hieß, war Karl Schiess (CDU). Er war von 1972 bis 1978 Landesinnenminister und wie Filbinger ehemaliges Mitglied der NSDAP. Im Ok­tober 1973 verabschiedete die Landesregierung den nach ihm benannten Schiess-Erlass, der besagte, dass bei jedem Bewerber für den öffentlichen Dienst vom Verfassungsschutz zu überprüfen sei, ob er die Gewähr biete, jederzeit aktiv »für die freiheitliche demokratische Grundordnung« ­einzutreten.

Die Teilnahme an linken Demons­trationen gegen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr und Kandidaturen für linke Organisationen bei Hochschulwahlen reichten aus, um die Eignung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst in Baden-Württemberg in Frage zu stellen. In einem Fall genügte die Unterschrift unter einer Erklärung gegen den Schiess-Erlass, um einem Bewerber den Zugang zum Schuldienst zu verweigern, wie ein Bericht des Forschungsprojekts feststellt. Von 1973 bis 1991 wurden in dem Bundesland über 600 000 Bewerber und bereits eingestellte Personen überprüft. Die Ablehnungen und Entlassungen beziffert das Forschungsprojekt – Stand 2020 – auf etwa 200 bis 300.

Vor allem die Angst vor dem »langen Marsch durch die Institutionen« im Bildungssektor (der Slogan geht auf Rudi Dutschke zurück) veranlasste die zuständigen Landesbehörden, kompromisslos gegen linke Bewerber vorzugehen. Von 1964 bis 1978 war Wilhelm Hahn (CDU) als Kultusminister dafür verantwortlich. Er gehörte wie Filbinger zu den damals bundesweit in Erscheinung tretenden Rechten, die die Kritische Theorie der Frankfurter Schule für die realen und angeblichen Exzesse der Neuen Linken und den Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF) mitverantwortlich machten.

In einem Brief an alle Hochschullehrer, Lehrer, Verleger und im Kulturbereich Tätigen in Baden-Württemberg vom 2. Juni 1972, der auf der Website des Forschungsprojekts zitiert wird, greift Hahn die Kritische Theorie direkt an. Er identifiziert »marxistische Ideologen und Wissenschaftler« wie Herbert Marcuse als Anstifter »junger Menschen«, um die Bundesrepublik, die sie für eine »faschistoiden Staat« hielten, mit dem »Mittel« des »Anarchismus« zu zerstören und in eine »kommunistische Idealgesellschaft« umzuwandeln. »Tausende von Sympathisanten« der RAF ­würden so herangezogen.

Leider findet sich außer den zitierten Worten Hahns nichts zu diesem Thema auf dem Blog des Forschungsprojekts. Thematisiert werden dort immerhin die Folgen, die eine unterstellte oder tatsächliche Verbindung zum Umfeld der RAF für Bewerber hatte. Auch hier nahm Baden-Württemberg eine Sonderstellung ein. Viele RAF-Mitglieder und -Unterstützer stammten aus dem Bundesland, etliche dort befindliche Orte und Institutionen waren Anschlagsziele, in Stuttgart-Stammheim wurden wichtigen Personen der ersten RAF-Generation inhaftiert und vor Gericht gestellt. In Baden-Württemberg vermuteten die Zeitungen des Springer-­Verlags und rechte Politiker zahlreiche RAF-Mitglieder oder zumindest so­genannte Sympathisanten der Gruppe. Bereits die öffentliche Ablehnung der Todesstrafe für Mitglieder der RAF war ausreichend für Zweifel an der Verfassungstreue eines Bewerbers.

In Baden-Württemberg wird die Regelanfrage seit dem 1. Januar 1991 nicht mehr vorgenommen. Doch auch nach 1991 wurden manche Linke wegen Zweifeln an ihrer Verfassungstreue nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt. Das wohl bekannteste Beispiel ist der Fall des Realschullehrers Michael Csaszkóczy. Der bekennende Antifaschist musste sich seine Lehrerlaubnis von 2004 bis 2007 gerichtlich erstreiten.

Kretschmann äußerte sich 2014 im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur zu seinem eigenen Fall: Zum Teil sei das Vorgehen gegen Menschen mit linken Ansichten damals hysterisch gewesen, in seinem Fall allerdings berechtigt. »Warum hätte der Staat damals jemanden einstellen sollen, der im KBW für die Diktatur des Proletariats eintrat?« meinte Kretschmann. »So jemand kann doch nicht in den Staatsdienst.« Treffender lässt sich »grüne Ur-Identität« schwer charakterisieren.