Am Hamburger Hafen soll ein Gedenkort für NS-Zwangsarbeiterinnen entstehen

Gedenken an der Hafenkante

In Hamburg engagiert sich die Initiative Dessauer Ufer für die Erinnerung an die rund 500 000 Menschen, die während des Nationalsozialismus in der Stadt Zwangsarbeit leisten mussten. Das Lagerhaus G am Hafen, in dem Tausende interniert waren, soll zum Gedenkort werden.

Der 27. Januar, der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, ist ein historisches Datum, an dem die Initiative Dessauer Ufer (IDU) dieses Jahr eine Gedenkveranstaltung vor dem Hamburger Lagerhaus G zumindest ­erwogen hätte – herrschte nicht gerade eine Pandemie. Das Datum ist auch im Kontext der Geschichte des Lagerhauses relevant. In dem langgestreckten Backsteinbau im Hamburger Hafen kamen den Unterlagen der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zufolge am 6. oder 7. Juli 1944 die ersten 1 000 ungarischen und tschechischen Jüdinnen an – per Bahn aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Ausgewählt wurden die Frauen, um Zwangsarbeit im Hamburger Hafen zu leisten. »Es galt, die NS-Kriegswirtschaft am Laufen zu halten«, erklärt Lisa Hellriegel, Geschichtsstudentin und seit 2019 aktiv in der IDU.

Hamburg habe im Sommer 1944 ­Bedarf angemeldet und 15 500 Arbeitskräfte für das »Geilenberg-Programm«, auch Mineralölsicherungsplan genannt, bei den NS-Behörden angefordert. Die ersten 1 000 Frauen, denen im August 1944 weitere 500 polnische Jüdinnen aus dem Ghetto Lodz folgten, wurden in einem Notprogramm zur Rettung der durch Bombentreffer beschädigten Mineralölindustrie im Hamburger Hafen eingesetzt. »Die Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter wurden in direkter Nähe ihrer Einsatzorte untergebracht, in KZ-Außenlagern wie dem Lagerhaus G«, sagt Hellriegel und deutet auf den langgestreckten Backsteinriegel hinter sich. Der durch Brandschutzmauern in acht Segmente, Haus eins bis acht, unterteilte langgestreckte Rotklinkerbau springt ins Auge. Jedes Segment verfügt über einem von einem kupferbeschlagenen Giebel geschützten Außenaufzug, um Lasten auf einen der drei Böden zu ­hieven.

»Die Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter wurden in direkter Nähe ihrer Einsatzorte unter­ge­bracht, in KZ-Außenlagern wie dem Lagerhaus G.« Lisa Hellriegel, Initiative Dessauer Ufer

Doch kaum jemand in Hamburg kennt das riesige Backsteingebäude, das am Saalehafen im östlichen Teil des Hamburger Hafens steht. Nur ein paar Hundert Meter entfernt von der ­S-Bahnstation Veddel donnern im Minutentakt schwere LKW das Dessauer Ufer entlang, die Ladung hin und her transportieren – Paletten, die hin und wieder auch für den nach wie vor genutzten historischen Bodenspeicher bestimmt sind. 24 000 Quadratmeter Fläche bietet das zwischen 1903 und 1907 erbaute Speichergebäude. Es steht seit 1988 unter Denkmalschutz, weil es das letzte seiner Art ist und eine historische Form der Lagerhaltung von Kaffee, Tabak, Tee und anderer sogenannter Kolonialwaren dokumentiert. Das gibt es so, originalgetreu und unverbaut, nicht mehr in Hamburg.

Spurensuche am Rand der Hafencity
Während der NS-Diktatur diente der 160 Meter lange Bau als Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme. Daran erinnern zwei dunkle Tafeln mit einem kurzen Text, einer auf Englisch, der andere auf Deutsch. Sie geben Auskunft darüber, dass hier zwischen Juli und September 1944 insgesamt 1 500 jüdische Frauen interniert waren, denen im Oktober 1 500 Männer folgten, die ebenfalls zur Zwangsarbeit gezwungen wurden. Anfang April 1945, so wird abschließend informiert, ­wurde das Außenlager Dessauer Ufer aufgelöst.

»Nicht viel Information angesichts der Tatsache, dass das Lagerhaus G das einzige komplett erhaltene von ins­gesamt 15 Außenlagern des KZ Neuengamme im Stadtgebiet Hamburgs ist«, kritisiert Markus Fiedler. Der 49jährige Dokumentarfilmer wurde im Frühjahr 2017 bei Filmaufnahmen auf das wuchtige Gebäude aufmerksam, knüpfte Kontakt zum damaligen Besitzer Lothar Lukas und konnte sich mehrfach in dem Gebäude umschauen, das halb auf das Ufer und halb auf Pfähle im Wasser des Saalehafens gesetzt ist.

In die Keller, die bei Hochwasser teilweise geflutet werden, schickte man die KZ-Häftlinge bei zahlreichen Bombenangriffen auf Hamburg am Ende des Zweiten Weltkriegs. Bei Tag wurden die Häftlinge hingegen per Barkasse zu ihren Einsatzorten geschafft. Vor allem in Raffinerien wie Rhenania-Ossag (Shell), Ebano-Oehler (Esso), J. Schindler oder Jung-Öl sowie anderen Hafenbetrieben wurden sie in Kommandos von 100 und mehr Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern eingesetzt. Sie mussten Aufräumarbeiten verrichten, Schutt beseitigen, verbogene Stahlträger entsorgen und Platz für Reparaturkolonnen schaffen, damit diese wieder kriegswichtige Treibstoffe produzieren ­können.

Kommandos von KZ-Häftlingen mussten in und nahe Hamburg auch Panzergräben ausheben, wie nicht nur aus den Biographien von KZ-Überlebenden wie Lucille Eichengreen, Edith Kraus oder Hédi Fried hervorgeht. Ihre Erinnerungen sind eine wichtige Quelle für die IDU und für Historikerinnen wie Lisa Hellriegel oder Lucy Debus, die sich im Rahmen ihres Studiums mit dem Lagerhaus G beschäftigen und sich zugleich bei der IDU engagieren. Sie liefern auch Details über die vielen unbekannten Aspekte der Geschichte des Lagerhauses G.

Die Initiative wurde 2017 gegründet, um diese Geschichte zu erforschen und der Öffentlichkeit zu vermitteln. Letzterem dienen Führungen und Veranstaltungen an Gedenktagen vor dem Lagerhaus G sowie eine erste Ausstellung, die Ende September im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zu sehen war, »Zeitkapsel Lagerhaus G«. Für die fundierte Schau haben rund zwei Dutzend Mitglieder der IDU, darunter Stadtteilaktivisten, Architektinnen, Studierende sowie Filmemacher, zusammengetragen, was sie in rund vier Jahren über das Lagerhaus G und seine Geschichte zwischen Speicher- und Internierungsort herausgefunden haben. Gezeigt werden zum Beispiel Interviews mit KZ-Überlebenden wie Edith Krause und historische Luftaufnahmen vom Lagerhaus G aus dem Zweiten Weltkrieg, aber auch Exponate wie ein zerkratzter Alulöffel, der 1998 im Haus sechs bei Renovierungsarbeiten in einem Holzbalken im ersten Obergeschoss gefunden wurde, oder die Zementtafel, die im Keller von Haus sieben zu sehen ist. »Hier arbeitete der Gefangene Alexander Federow 1945«, ist darauf in kyrillischer Schrift eingeritzt.

Lagerhaus G Hamburg Ausstellungsraum

Manche Exponate für die Ausstellung »Zeitkapsel Lagerhaus G« …

Bild:
Knut Henkel

Diese beiden Exponate wurden nur durch Zufall gefunden. »Bisher haben ­Experten das Lagerhaus G nicht en detail unter die Lupe genommen. Da könnte noch so manches Exponat zum Vorschau kommen«, meint Fiedler, der von der Existenz eines Kapo-Verschlags in einem der Untergeschosse weiß. Für Oliver von Wrochem, den Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, klingt das plausibel: »Wir sind natürlich die Ersten, die an einer systematischen Sichtung der Spuren und der Aufarbeitung der Nutzungsgeschichte des Gebäudes Interesse haben.« Diese sei überfällig, so der Historiker, der das Lagerhaus G als einen historischen Ort ansieht, der für die Geschichte der KZ-Zwangsarbeit im Hamburger Hafen von zentraler Bedeutung ist.

Von Wrochem schätzt die Arbeit der IDU, die mit ihrer Ausstellung eine ganze Reihe unbequemer Fragen aufgeworfen hat. Zum Beispiel die, weshalb es bis heute in Hamburg keinen Ort des Gedenkens an Zwangsarbeit gibt. Einzig eine Ausstellung in der am Stadtrand liegenden KZ-Gedenkstätte Neuengamme hat die Stadt zu bieten. Der IDU ist das zu wenig. Auch von Wrochem würde einen zentrumsnahen Erinnerungsort für »deutlich angemessener« halten, und dafür sei das Lagerhaus G der richtige Ort.

Eine Idee, wie das in naher Zukunft aussehen könnte, hat die IDU gleich mit ihrer Ausstellung geliefert: einen »utopischen Rückblick aus dem Jahr 2030«. Die Zeitleiste setzt im Jahr 2021 ein und skizziert Jahr für Jahr in zehn Etappen die Geschichte von der Sanierung und Umstrukturierung des historischen Speichers zu einem Gedenk- und Lernort. Die mit Zeichnungen des Gebäudes und etwas Text versehenen DIN-A2-Plakate haben die Ausstellungsmacherinnen und -macher auf Klebe­folie gedruckt und auf die Dielen des Museums für Kunst und Gewerbe geklebt. Das sei ein provokanter Clou der Ausstellung, die von Ende September bis Anfang Oktober vergangenen Jahres für lebhafte Diskussion unter den Besucherinnen und Besuchern gesorgt habe, so Bente Matthiesen von der Initiative. Die Aktion und die positive me­diale Resonanz haben das Lagerhaus G in Hamburg bekannt gemacht und damit auch die Frage nach seiner zukünftigen Nutzung.

Zwischen Aufwertung und Verfall
Wie das Lagerhaus künftig genutzt werden soll, bleibt jedoch ungeklärt. Zwar gibt es eine politische Absichtserklärung, doch nur das Grundstück ­befindet sich im Besitz der Stadt Hamburg, nicht aber das histo­rische Gebäude. Es wurde 1997 an ein privates Logis­tikunternehmen veräußert. Kritiker mutmaßen, das sei geschehen, um sich absehbarer Sanierungskosten zu entledigen, die dem Unternehmen, der LG Lagerhaus GmbH, aufgebürdet worden waren. Es kam seinen Verpflichtungen aber nur partiell und nicht immer sachgemäß nach und musste 2017 ­Insolvenz anmelden. Damals hätte die städtische Hafenaufsicht (Hamburg Port Authority, HPA) die sanierungsbedürftige Immobilie im Rahmen des ­Insolvenzverfahrens für wenig Geld übernehmen können. Doch sie übte ihr Vorkaufsrecht nicht aus.

Bereits damals war klar, dass mit der Erweiterung der Hafencity das sogenannte Innovationsquartier Grasbrook entstehen würde, das an das Lagerhaus G grenzt. In den längst abgeschlossenen Planungen für Frei- und Grünflächen wurde, so die Hafencity Hamburg GmbH, das Lagerhaus G schon berücksichtigt und auch sein Grundstück ist mittlerweile an die städtische GmbH überschrieben. Zudem haben SPD und Grüne in ihrem Koalitionsvertrag vom Juni 2020 ihre Absicht erklärt, eine »Gedenkstätte zur Dokumentation von Zwangsarbeit und KZ-Außenlagern in der NS-Zeit« im Lagerhaus G einzurichten.

»Wir sind natürlich die Ersten, die an einer systematischen Sichtung der Spuren und der Aufarbeitung der Nutzungsgeschichte des Gebäudes Interesse haben.« Oliver von Wrochem, Leiter der NS-Gedenk­stätte Neuengamme

Diese Entscheidung bewerten die IDU und Fiedler, der alles rund um das Lagerhaus G seit 2017 genauestens verfolgt, erst einmal positiv. »Das Problem ist bloß, dass zwischen der Stadt und den Besitzern Funkstille herrscht«, sagt er. Diese kommen aus dem benach­barten Ausland: Lagerhaus G Heritage Foundation KG heißt die niederländische Kommanditgesellschaft, die das Lagerhaus im März 2018 erworben hat und seitdem gewerblich nutzt.

Das belegt auch der rege Betrieb unter der Woche rund um das gigantische Gebäude, an dem sich immer wieder allerhand Unrat türmt. Abgemeldete Wagen, teils auf Sattelschleppern, stehen oft am unteren Ende des Speichers vor den Segmenten Haus eins und zwei ­herum. Elektroschrott sammelt sich dort an einen Container, Mülltüten flattern im Wind und Unrat bedeckt hier und da das von Schienensträngen durchbrochene Pflaster. Lässt man die Augen schweifen, fallen beim Haus eins Risse zwischen Mauerwerk und Dach auf, aber auch Dellen am Mauerwerk, die sich an mehreren Stellen an der Fassade zeigen, geben Anlass zu Sorge. Es könnten freiliegende Maueranker sein, die die Fassade am Holzständerwerk halten.

Aus diesen Gründen appelliert seit Jahren der Denkmalverein Hamburg an den Senat, mehr Verantwortung für das Lagerhaus G zu übernehmen. Feuchtigkeitsschäden und Schwamm soll es geben. Unklar ist zudem, ob die Holzpfähle, auf denen der Speicher auf der Wasserseite ruht, noch ausreichend tragfähig ist. Solche Befürchtungen teilt Fiedler, der zuletzt 2019 im Lagerhaus war. Bis dahin konnte die IDU bei Führungen noch hin und wieder in das ­riesige Gebäude hinein. Das ist nun vorbei.

Im Frühjahr 2021 hat die Kommanditgesellschaft erstmals durch Güven ­Polat, eigener Aussage zufolge ihr Generalbevollmächtigter, ein eigenes Konzept für den Erhalt und die zukünftige Nutzung des Lagerhaus G angekündigt. Bis Ende des vergangenen Jahres lag es weder den Verantwortlichen in der Kulturbehörde vor noch dem Leiter der Gedenkstätte Neuengamme, Oliver von Wrochem. Auch Gespräche über die Gestaltung eines Gedenkorts hat es von Wrochem zufolge nicht ­gegeben.

Auf Fragen reagiert Polat dünnhäutig. Er ist überzeugt, dass ihm die Hamburger Verantwortlichen »nicht wohlgesinnt sind«. Seit drei Jahren versuche er, Gespräche mit den Behörden zu führen, und werde immer wieder vertröstet. Polat vermutet, dass die stadt­eigene Hafencity GmbH das Gebäude zurückhaben will. Das Verhältnis scheint sehr angespannt. Und deshalb geht es nicht weiter. Die Spezialisten des Denkmalschutzamts warten auf einen Termin für eine detaillierte Bestandsaufnahme des Lagerhauses G. Dafür sowie für die wissenschaftliche Aufarbeitung der Nutzungsgeschichte des Gebäudes liegen Aufträge vor. Dafür ist jedoch die Einwilligung der Eigen­tümer nötig und die steht seit Wochen aus. Für den Gedenkort an der Hafenkante ist das keine gute Nachricht.