Streit über das Urheberrecht bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen in Indien

Gefährdeter Zugang

In Neu-Delhi verklagen große Verlage die Plattform Sci-Hub, die im Internet kostenlos Zugang zu wissenschaftlichen Artikeln gewährt. Insbesondere in ärmeren Ländern wird sie genutzt, der Ausgang des Verfahrens könnte also weitreichende Folgen haben.

Derzeit läuft in Neu-Delhi ein Gerichtsverfahren gegen die Plattformen Sci-Hub und Libgen wegen Urheberrechtsverletzungen. Geklagt haben drei der international größten wissenschaftlichen Verlage – Elsevier, Wiley und die American Chemical Society (ACS) –, die dadurch ihr Geschäftsmodell gefährdet sehen. Gemeinsam gehören diesen Verlagen etwa 6 000 Fachzeitschriften, das entspricht 40 Prozent des gesamten Markts. Der Zugang zu einzelnen Artikeln kostet im Schnitt 25 bis 50 Euro, sofern eine Forschungsinstitution kein Abonnement dieser Publikationen besitzt. Solche Abos sind vor allem für Universitäten in ärmeren Ländern oft unerschwinglich, dortige Forscherinnen und Forscher greifen daher häufig auf die kostenlosen Kopien auf Sci-Hub und Libgen zurück. Am ersten Verhandlungstag am 24. Dezember 2020 wurde festgelegt, dass die Gründerin der Plattform, Alexandra Elbakyan, keine neuen Artikel mehr hochladen darf. Im weiteren Verlauf will das Gericht entscheiden, ob eine sogenannte dynamische Sperre verhängt wird – diese würde nicht nur die Hauptseite von Sci-Hub, sondern auch weitere Mirror-­Seiten blockieren.

Die Programmiererin Alexandra Elbakyan startete die Website 2011 in Kasachstan als »offen kommu­nis­tisches Projekt«, um die Markt­macht der großen Verlage zu brechen.

Sci-Hub wurde bereits in mehreren Ländern wegen Urheberrechtsverletzungen verklagt, etwa in den USA, Frankreich und Russland. Was macht den Fall in Indien so besonders? Im Gespräch mit der Jungle World erläutert die Be­trei­berin Elbakyan, dass sie in früheren Fällen oftmals gar nicht über eine vor­liegende Klage informiert gewesen sei. »Meist habe ich von den Gerichtsverfahren erst erfahren, als die Website bereits gesperrt worden war.« In Indien sei es anders gelaufen. »Die Klage in Indien war eine schlechte Nachricht für mich, da die Nutzeranzahl von Sci-Hub in Indien nach China am zweithöchsten ist.« Als sie darüber auf dem mittlerweile gelöschten Twitter-Account von Sci-Hub berichtete, erregte der Fall große Aufmerksamkeit. »Viele indische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren bestürzt und twitterten, dass ihre Arbeit ohne Sci-Hub unmöglich sei«, so Elbakyan. Eine Petition zur Unterstützung der Seite erhielt über 2 200 Unterschriften.

Es ist nicht das erste Mal, dass in ­Indien vor Gericht über den Gebrauch wissenschaftlicher Texte verhandelt wird. Bereits 2012 verklagten mehrere Verlagshäuser – darunter Oxford University Press und Cambridge University Press – die University of Delhi. Sie warfen der Institution vor, ihre Lehrkräfte würden illegale Fotokopien ihrer Publikationen anfertigen. Das Gericht entschied allerdings, dass das Vorgehen nicht gegen das Urheberrecht verstoße, solange die Materialien lediglich im Unterricht verwendet werden. Es sei nicht zu erwarten und entspreche nicht der Realität an indischen Hochschulen, dass sich alle Studierenden teure Lehrbücher kaufen könnten. In ihrem Urteil von 2016 betonten die Richter: »Der Zweck des Urheberrechts ist die angemessene Weitergabe, nicht aber die komplette Behinderung der Verbreitung von Wissen.« Der Grundsatz des Informationsaustauschs wurde hier also höher bewertet als der Verkaufswert intellektuellen Eigentums. Gut möglich, dass diese Entscheidung nun Sci-Hub zugute kommen könnte.

Manche indische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten, dass das Vorgehen der Verlage gegen die Plattformen im Interesse der hindunationalistischen indischen Regierung sein könnte. Ein Professor, der anonym bleiben möchte, stellt im Gespräch mit der Jungle World eine Verbindung zwischen den politischen ­Veränderungen an indischen Hochschulen und dem Vorgehen gegen ­Sci-Hub her: »Das indische Ausbildungssystem ist schon seit einer Weile in Gefahr. Einer der einfachsten Mechanismen, um Kontrolle auf die Forschungsgemeinde auszuüben, ist, einfach keine Gelder mehr zur Verfügung zu stellen.« Vor allem kritische Projekte würden kaum noch Forschungsmittel erhalten – gerade diese seien dann auf Sci-Hub angewiesen. Sollte die Plattform blockiert werden, bedeutete das den Todesstoß für viele solcher Vorhaben.

Insgesamt wird Sci-Hub eigenen Angaben zufolge täglich von über einer halben Million Personen genutzt. Nicht nur in ärmeren Ländern ist die Seite eine unabdingbare Forschungsressource, sondern überall auf der Welt. Denn selbst wenn Journale durch Universitätsbibliotheken abrufbar sind, kann man sie oftmals nur direkt vom Campus aus nutzen – gerade in der Pandemie aber ist diese örtliche Beschränkung ein Problem.

Genau hier setzt Sci-Hub an: Durch eine dezentrale P2P-Speichertechnologie können weltweit über 88 Millionen wissenschaftliche Artikel heruntergeladen werden – das entspricht Angaben von Forschern der Universität von Pennsylvania (Philadelphia) zufolge 85,1 Prozent aller existierenden Publikationen. Die Programmiererin Elbakyan startete die Website 2011 in Kasachstan als »offen ­kommunistisches Projekt«, wie sie in einem Interview sagte, um die Marktmacht der großen Verlage zu brechen. Diese ist vor allem in den vergangenen 30 Jahren gestiegen, die Preise pro Artikelzugang haben sich in dieser Zeit verfünffacht. Angaben des eigenen Jahresberichts zufolge lag die Gewinnmarge des Elsevier-Mutterkonzerns Relx im Jahr 2018 bei 31 Prozent und somit etwa doppelt so hoch wie die Profitspanne bei Firmen wie Alphabet, Tesla oder Coca-Cola. Von diesem Geld erhalten weder die Autorinnen und Autoren noch die Gutachterinnen und Gutachter der Fachzeitschriften etwas, denn ihre Leistungen erbringen sie unentgeltlich.

Der Publikationsdruck in der Wissenschaft ist hoch und trägt dazu bei, dass Forscherinnen und Forscher selbst oft wenig Einfluss auf den Veröffentlichungsprozess haben. »Publish or perish« – veröffentlichen oder untergehen – ist eine in der Wissenschaft ­geläufige Formel, die bereits Hannah Arendt ein Begriff war. Dabei ist es vor allem wichtig, dass die eigene Arbeit möglichst in einschlägigen, von Experten begutachteten (peer-reviewed) Fachzeitschriften erscheint. Genau dies spielt den großen Konzernen in die Hände und erschwert die Entstehung von neuen, frei zugänglichen Jour­nalen jenseits der prestigeträchtigen Namen.

Dabei existieren mehrere Ideen, den Zugang zu akademischer Literatur frei zugänglich zu machen und dabei geltendes Urheberrecht beizubehalten. Der US-amerikanische Verlag Wiley beispielsweise bietet die Option »Gold open access« an. Bei diesem Modell können Artikel sofort frei zugänglich publiziert werden, allerdings für vierstellige Geldbeträge, die die Autorinnen und Autoren selbst zahlen müssen. Auch deutsche Forschungseinrichtungen haben ein Konzept zur Finanzierung von frei zugänglichen Veröffentlichungen erarbeitet, das sogenannte Deal-Projekt. Hierbei sollen nicht nur Autoren und Autorinnen bei der Veröffentlichung unterstützt werden, sondern auch Bibliotheken finanziell für die Bereitstellung von Fachzeitschriften entlastet werden. Auf internationaler Ebene gibt es das Projekt »Plan S«, das vor ­allem Forschende aus ärmeren Ländern beim freien Zugang zu Wissen unterstützen soll. Hierbei zahlen Institutionen für die Bereitstellung von Open-Access-Lizenzen, die ihr Forschungspersonal nutzen kann. Aber auch durch diese Finanzierung bleibt die Grundlage der Machtstellung der ­großen Verlagshäuser bestehen – weder ihre Gewinne noch ihre Kontrolle über wissenschaftliche Veröffentlichungen wird dadurch gebrochen.

Alexandra Elbakyan fasst die Folgen dieser Entwicklung folgendermaßen zusammen: »Während sämtliche pseu­do­wissenschaftliche Informationen im Netz frei verfügbar sind, bleibt der Zugang zu wissenschaftlichen Arbeiten durch Paywalls verwehrt.« Daher hat sie sich entschieden, trotz der ausstehenden Entscheidung in Neu-Delhi weiter Artikel hochzuladen. »Es stimmt, dass sich seit 2017 die Anzahl der Open-­Access-Publikationen verdoppelt hat. Aber der Anteil der Artikel, die durch ›Plan S‹ und andere Initiativen angeboten werden, liegt immer noch bei nur etwa sechs Prozent aller Veröffentlichungen. Sci-Hub allerdings ermöglicht den Zugang zu nahezu allen wissenschaftlichen Aufsätzen!«

Derzeit sei ein tiefgreifender Transformationsprozess zu beobachten, der ein Ende des traditionellen Verlags­wesens und der damit verbundenen Urheberrechtsregelung einläuten könnte. »Möglicherweise werden Forschungsergebnisse in der Zukunft statt in Fachzeitschriften eher in Formen von akademischen sozialen Netzwerken ausgetauscht werden.«

Sollte sich das Gericht entscheiden, die Benutzung von Sci-Hub zu legalisieren, könnte das also erhebliche disruptive Folgen für das wissenschaftliche Verlagssystem haben. Bis es tatsächlich zu einem Urteil kommt, könnte es allerdings noch sehr lange dauern. Beobachter gehen davon aus, dass sich der Prozess über mehrere Jahre hinziehen könnte.