Imprint: »Retroaktive Avantgarde«, ein Buch über Pop-Manifeste

Sie wollten Teil einer Jugendbewegung sein

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Manifest die avantgardistische Textsorte schlechthin. In jüngerer Vergangenheit haben sich so manche Popmusiker ihrer bedient, in Deutschland insbesondere der Diskursrock der nuller Jahre. Was hat es damit auf sich? Anna Seidel hat in ihrem Buch »Retroaktive Avantgarde« die Pop-Manifeste untersucht.
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Im Jahr 1994 glaubt Stephin Merritt die Popformel gefunden zu haben. Das ist ihm Grund genug für ein Manifest, das unter anderem so klingt: »Alle Kunst strebt danach, wie Top-40-Bubblegum-Pop zu sein. (…) Musterformel: (…) Ein Song, der auf einer langsamen unveränderlichen Wiederholung des ersten und vierten Akkords der Tonleiter basiert, (…) wird eine ruhige, wandernde Qualität mit ewig unerfüllten Erwartungen ausdrücken, die gut zu Text passt, der entsprechende Gefühle erregt. (…) Wer über eine lediglich grundlegende musikalische Ausbildung verfügt, kann diese Formel verwenden, um beliebig viele Songs zu ­schreiben, mit vorher bekanntem Ergebnis.«

Ein Manifest haben wir im Pop wohl eher nicht vermutet. Merritt aber, Songwriter, Sänger und Multiinstrumentalist der US-amerikanischen Band The Magnetic Fields, veröffentlicht 1994 das »Formulist ­Manifesto«. Er nutzt damit eine Textgattung, die ihren Ursprung in der politischen Rhetorik hat, mit dem »Kommunistischen Manifest« aus dem Jahr 1848 als wohl prominentestem Beispiel. Am Anfang des 20. Jahrhunderts beginnen die Avantgardebewegungen, sich dieser Textgattung anzunehmen und dafür zu sorgen, dass wir Manifeste nicht mehr in erster Linie als politische Texte kennen, sondern als »die Erklärung einer gesellschaftlichen Initiative oder einer künstlerischen Gruppierung« (Cristina Jarillot Rodal).

Manifeste sind seit Futurismus, Dada und Surrealismus vor allem dafür bekannt, in den Künsten dem Alten abzuschwören und das Neue zu fordern. Manifeste sind radikal und wagemutig.

Manifeste sind seit Futurismus, Dada und Surrealismus vor allem dafür bekannt, in den Künsten dem Alten abzuschwören und das Neue zu fordern. Manifeste sind radikal und wagemutig. Manifeste sind die ideale Textgattung zur Verkündung von Utopien und von Innovationen. Schließlich heißen die Avantgarden nicht umsonst so; sie bilden die kulturelle Vorhut – flankiert eben von ­ihren Manifesten.

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