Auch in Nepal hat sich Covid-19 verbreitet

Unmaskiert in den Bergen

Wie die Menschen mit der Pandemie umgehen, unterscheidet sich stark zwischen den abgelegenen Dörfern des Hochlands und den Städten.
Reportage Von

Drei Stunden im Regen, danach geht es zwei Stunden durch knietiefen Schnee weiter, bis endlich auf 2 600 Höhenmetern der schmale Jaljala-Pass erscheint, der in das Dorf Thawang im nepalesischen Distrikt Rolpa führt. Drei Stoffhändler aus der Tiefebene Terai nahe der indischen Grenze kämpfen sich hier am 31. Dezember zu Fuß voran. Normalerweise klappern sie mit Jeeps die Bergdörfer ab, doch wegen des Schnees ist das nicht möglich. Eine halbe Stunde später, beim Abstieg, kommt ihnen eine junge Frau entgegen, der Tragekorb auf ihrem Rücken ist zum Bersten gefüllt. Wie es hinter dem Pass aussehe, will sie wissen. »Wie hier«, sagt einer der Stoffhändler. Sie nickt gelassen und geht weiter ihres Wegs.

»Einen dritten Lockdown werde ich finanziell nicht überstehen.« Ein Hotelinhaber in Burtibang

Zwei Tage später, Anfang Januar, im Distrikt Rukum, bietet sich ein ähnliches Bild auf dem 3 100  Meter hoch gelegenen Pass Pathihalne (in der lokalen Sprache Yhir Neta genannt), über den der nagelneue Middle-West-Highway führt. Dutzende Buspassagiere stapfen mit Taschen, Koffern oder einem neuen Fernseher in den Händen durch den Schnee, weil der Bus nicht weiterkommt. Nichts erinnert hier an die Covid-19-Pandemie, schon gar keine Masken.

Im Hotel auf dem Pass, beim Teetrinken, antwortet einer von ein paar älteren Nepalesen mit gegerbten Gesichtern, die aus den umliegenden Hoch­tälern kommen, auf die Frage, ob sie gegen Covid-19 geimpft seien: »Natürlich nicht. Das würde unsere natürliche nepalesische power angreifen. Vor 18 Monaten wurden da hinten im Wald drei Pilzsammler von einem Bären angegriffen. Nur einer musste nach Kathmandu ins gute Krankenhaus.«

Busreisende auf dem Pass beraten sich

Weiter ohne Bus. Die Reisenden müssen nun zu Fuß über den Pass

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Gilbert Kolonko

Das »gute Krankenhaus« in Kathmandu ist von hier aus 18 Busstunden entfernt – wenn kein Schnee liegt. Die Lebenserwartung beträgt im Distrikt Rukum 70,2 Jahre, die Kindersterblichkeitsrate ist mit 33 pro 1 000 Geburten fast zehnmal so hoch wie die in Deutschland, wo der Wert 2016 nach Angaben der Weltbank 3,8 betrug. Wer hier keine gute körperliche Konstitution besitzt, hat es auch ohne die Pandemie schon schwer.

Im Juli vergangenen Jahres schied der 69jährige Khadga Prasad Sharma Oli von der Kommunistischen Partei Nepals-Vereinigte Marxisten-Leninisten (CPN-UML) nach monatelangen Turbulenzen aus seinem Amt als Premierminister Nepals, Kritiker bemängelten nicht zuletzt seine Pandemiepolitik (Jungle World 30/2021). Seit Beginn der Pandemie hatte er immer wieder ähnlich lautende »Nepal power«-Sätze von sich gegeben. In seiner Ansprache an die Nation am 25. Mai 2020 sagte er zum Beispiel, die Nepalesinnen und Nepalesen würden das Virus aufgrund ihrer »starken Willenskraft« und ihres »Immunsystems« besiegen. Auch hatte er behauptet, man könne das Virus könne durch Niesen, das Trinken von Kurkumawasser oder das Gurgeln mit Guavenblatttee bekämpfen. Bereits Mitte Mai 2021, in der zweiten Covid-19-Welle, waren die Krankenhäuser des Landes mit Infizierten überfüllt, insbesondere in staatlichen Krankenhäusern fehlten Sauerstoffflaschen.

Am 22. Januar wurde Oli positiv auf Covid-19 getestet. Es geht ihm nicht gut, denn nach zwei Nierentransplantationen ist sein Immunsystem deutlich geschwächt. Für die Bewohnerinnen und Bewohner der Bergdörfer sind ­solche Operationen meist nicht bezahlbar. Jedes Jahr verkaufen Hunderte von ihnen aus finanzieller Not sogar eine ihrer Nieren.

Ein Höhepunkt des Fests in Bhalkot: Das Karussell

Ein Höhepunkt des Fests in Bhalkot: Das Karussell

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Gilbert Kolonko

Unterschiede wie Berg und Tal
Mitte Januar hat die Omikron-Welle Nepal erreicht. In Kathmandu und ­anderen großen Städten steigen die Infektionszahlen steil an. Die Schulen bleiben vom 11. bis mindestens zum 29. Januar geschlossen. Auf dem Pass, der die Distrikte Rukum und Baglung teilt, ist hingegen alles beim Alten: Es liegt zwar weniger Schnee, aber bei bis zu minus elf Grad Celsius ist alles vereist. Busfahrer, Passagiere und das Hotelpersonal versuchen, mit Schippen das steile Stück Straße auf der Westseite vom Eis zu befreien. So gelingt es später einigen Jeeps hinauf oder hinunter zu fahren.

In einem davon befindet sich hoher Besuch, eine Abgeordnete der an der Regierungskoalition beteiligten Kommunistischen Partei Nepals (Maoistisches Zentrum) (CPN-M) aus der Provinz Lumbini, in der unter anderem die Distrikte Rukum und Rolpa liegen. Mit ihrer Entourage begibt sich die Abgeordnete sofort ausgelassen zu einer Fotosession auf einem schneebedeckten Hang neben der Straße. Jubelschreie erklingen, als alle einmal auf dem Hosenboden den Hang hinabrutschen.

Zwei Tage zuvor und 2 000 Höhenmeter tiefer in der Basarstadt Burtibang bot sich ein völlig anderes Bild: 95 Prozent der Menschen tragen eine Schutzmaske. Bei den Ladenbesitzerinnen und -besitzern herrscht nackte Existenzangst, obwohl im örtlichen Krankenhaus offiziell kein einziger Covid-19-Fall liegt. »Einen dritten Lockdown werde ich finanziell nicht überstehen«, sagt der 50jährige Inhaber eines Hotels, der das Geld für den Bau seines schmalen, zweistöckigen Hauses in 15 Jahren Arbeit in den Golfstaaten verdient hat, wo viele aus Burtibang arbeiten. Die Rücküberweisungen von Nepalesinnen und Nepalesen aus dem Ausland sind seit Beginn der Covid-19-Pandemie stark zurückgegangen, ebenso die Einnahmen aus dem Tourismus.

Das Personal des Passhotels ruht aus

Pause nötig. Das Personal des Passhotels ruht aus

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Gilbert Kolonko

Abseits größerer Ortschaften, in den Bergdörfern, sieht es weiterhin so aus, als gäbe es die Pandemie gar nicht. Im 1 800 Meter hoch gelegenen Bhalkot im Distrikt Baglung drängen sich während des dreitägigen Makar Sankranti, des hinduistischen Erntedankfests, täglich rund 1 000 Menschen aus allen Dörfern der Gegend auf dem Marktplatz um Essensstände, das hand­betriebene Karussell oder Pfeil- und Ringwerfbuden. Erster Preis: eine Flasche Bier, die hier umgerechnet rund vier Euro kostet, da Nepals Regierung versucht, einen großen Teil der Staatseinnahmen über indirekte Steuern wie die Umsatz- oder die Alkoholsteuer hereinzuholen. In den umliegenden Lehmbuden fließt reichlich Roksi, hausgemachter Schnaps aus Mais, Reis oder Hirse. Geldscheine wechseln zwischen den dichtgedrängt Sitzenden, ein Würfelbecher so groß wie ein Eimer knallt regelmäßig auf den Lehmboden.

Nach dem Fest findet in Bhalkot ein sechstägiges Volleyballturnier statt. Die auf einem Podium sitzenden Veranstalter und Verantwortlichen tragen Schutzmasken, einige Verkäuferinnen und Verkäufer tun es ihnen gleich, der Rest drängt sich unmaskiert aneinander vorbei.

Spezielle Gäste
Im Hotel auf dem Pass zwischen Rukum und Baglung sitzen etwa 15 Buspas­sagiere, Fahrer und Einheimische um den Lehmofen. Drei der vier jungen Hotelangestellten seien seit Wochen immer wieder krank, derzeit auch, ­erzählen sie. Ob es sich um Covid-19 handelt, ist unklar. Bis zum 26. Januar zählte Nepal mit seinen knapp 30 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner offiziell über 11 600 Covid-19-Tote und fast 940 000 Infizierte. Doch bereits im August 2021 waren bei 68 Prozent der Untersuchten in Nepal Antikörper gegen Covid-19 gefunden worden – zu einem Zeitpunkt, als erst 14,2 Prozent der Bevölkerung zweifach geimpft waren und nur 17,1 Prozent mindestens eine Impfung erhalten hatten. Mittlerweile sind über 40 Prozent der Bevölkerung doppelt geimpft. Doch wie viele Menschen genau in Nepal wohnen und wie viele Nepalesinnen und Nepalesen gerade zum Arbeiten in Indien, den Golfstaaten oder in Europa weilen, weiß man nicht, denn Nepal hat bis heute kein Einwohnerregister. Schätzungen zufolge leben allein in ­Indien sieben Millionen Nepalesinnen und Nepalesen.

Glücksspieler in Bhalkot während des Fests

Gewinnen statt Abstand. Glücksspieler in Bhalkot während des Fests

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Gilbert Kolonko

Einem der jungen Hotelangestellten geht es so schlecht, dass er direkt am heißen Ofen zwischen den Gästen sitzt. Ein Einheimischer tätschelt ihm liebevoll die Schulter und sagt: »Komm, du bist Nepalese!« Dann reißt er seine Arme hoch, zeigt seine Muskeln und knurrt wie ein Tiger. Die anderen Gäste lachen aus vollem Herzen.

Die Wasserleitungen auf dem Pass sind eingefroren. Die einzige Frau ­unter den Angestellten, in farbenfrohe Baumwollkleider gehüllt, kippt alle zehn Minuten frischen Schnee in einen großen Topf auf dem Ofen. Draußen schlachten die anderen beiden jungen Helfer und zwei Gäste eine Ziege, am Abend werden spezielle Gäste erwartet. Wenn es gut läuft, wird der Kopf der Ziege mit einem Schlag des Kukri-Messers vom Rumpf getrennt – doch heute nicht.

Gegen 19 Uhr kommen die speziellen Gäste mit einem Land Rover an: ein junges ambitioniertes Mitglied der regierenden sozialdemokratischen Nepalesischen Kongresspartei (NC) aus dem 70 Kilometer entfernten Distrikt ­Gulmit und zehn seiner Parteigenossen. Nach einer halben Stunde am Ofen klagt der Politiker sein Leid: »Ich kandidiere dieses Jahr bei den Gemeindewahlen für einen von 756 Sitzen. Selbst dafür braucht es knapp eine Million US-Dollar, um erfolgreich zu sein.« Solche Ausgaben werden ­regelmäßig nach gewonnener Wahl wieder reingeholt.

Als die »politische Zukunft« Nepals am frühen Morgen Richtung Osten den Pass hinunter fährt, wischen die An­gestellten die Kotze der speziellen Gäste vom Boden.

Smartphones statt Rebellen
Eine Stunde später kommt der erste Bus von der Ostseite auf dem Pass an, es schneit schon wieder. Nach kurzer Stärkung im Passhotel beraten sich Busgäste und -personal. Es wird kurz laut, dann wechseln Geldscheine die Hände und langsam machen sich alle Passagiere mit Sack und Pack zu Fuß den Pass hinunter Richtung Westen auf.

In Bhalkot findet gerade das Halb­finale des Volleyballturniers statt. Das dortige Hotel ist brechend voll. Eine junge Spielerin in kurzen Hosen sitzt neben Roksi trinkenden Einheimischen in langen, kratzenden Umhängen aus Ziegenhaar. Auch sie zeigen Bein unter ihren Lungis, traditionell von Männern getragenen Wickelröcken, die bis zu den Knien reichen. Dazwischen finden sich junge Männer in Jeans und »coolen« Jacken in auf­gekratzter Stimmung, aber ohne jegliche Aggressivität.

Busreisende am Ofen des Passhotels

Einmal aufwärmen bitte. Busreisende am Ofen des Passhotels

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Gilbert Kolonko

Tags darauf geht es 23 Kilometer zu Fuß auf der Straße bis nach Burtibang. Vor rund 20 Jahren bestanden die Wege ab Bhalkot noch aus Büffelmist, der Pfad in Richtung Westen verlor sich im Dschungel. Junge Menschen waren in der Gegend damals kaum ­unterwegs, alle, die es konnten, siedelten in die Basarstädte um. Es war die Zeit des Nepalesischen Bürgerkriegs, der von 1996 bis 2006 währte. Die maoistischen Rebellinnen und Rebellen streiften durch die Dörfer und forderten von den Menschen entweder ein Familienmitglied für ihre Armee oder umgerechnet 60 Euro. Den Königen von Nepal und ihren korrupten Hofpolitikern waren die Berggegenden des Westens schon immer egal, weil hier nichts zu holen war.

Erst 2008 wurde Nepal seinen letzten König los, Gyanendra Bir Bikram Shah Dev. Das Land hatte damals einen ähnlichen Entwicklungsindex wie Afghanistan. Trotz politischer Dauerkrise, eines schweren Erdbebens 2015 und zwei gewalttätigen Aufständen im Tiefland von Terai nahe Indien, in dem mittlerweile knapp 60 Prozent der Bevölkerung lebt, hat Nepal inzwischen die Atommacht Pakistan im Index der menschlichen Entwicklung (HDI) überholt.

»Auch während der Lockdowns hatte ich von morgens bis abends auf.« Eine Wirtin in Tansen

Heutzutage führt eine Straße von Bhalkot nach Westen, allerdings ist sie nur dürftig asphaltiert. Ein Dorfpolizist nennt den Grund dafür: Die Bestechungsgelder für den Bau einer Straße seien so hoch, dass der Bauunternehmer am Asphalt spare. Auf fast jedem Bergkamm stehen Sendemasten, die Menschen können so gut wie überall ihre chinesischen Smartphones benutzen. Auch Strom gibt es in fast jedem Dorf; er kommt aus kleinen Wasserkraftwerken, die den Flusslauf nur wenig beeinträchtigen.

Wieder in Burtibang angekommen, ist die Stimmung noch schlechter als Anfang Januar, obwohl noch immer kein Covid-19-Infizierter im kleinen Krankenhaus liegen soll. In Kath­mandu dürfen wegen der steigenden Infektionszahlen Fahrzeuge nur jeden zweiten Tag genutzt werden, an einem Tag nur Fahrzeuge mit gerader Endzahl auf dem Nummernschild, am nächsten Tag die mit ungerader. Doch dadurch ist ein weiteres Problem entstanden. Die meisten Fahrzeuge in der Hauptstadt sind Minibusse. Nun steht täglich nur noch die Hälfte von ihnen als Transportmittel zur Verfügung, viele sind überfüllt.

107 Buskilometer südöstlich von Burtibang, in der großen Basarstadt Tansen, liegen die ersten Covid-19-Infizierten im Krankenhaus, trotzdem wirken die Menschen nicht panisch. »Sollten die Irren in Kathmandu auch in Tansen einen Lockdown aussprechen, werden sie sich wundern«, sagt ein ­ansonsten seelenruhiger Geschäftsmann auf die Frage, ob er Angst habe. Die Wirtin einer Roksi-Kneipe ist da pragmatischer: »Auch während der Lockdowns hatte ich von morgens bis abends auf.« Dann verrät sie schon einmal das geheime Klopfzeichen, mit dem man im Ernstfall Eintritt erlangt.