In ihrem Roman »Stunden aus Blei« beschreibt Radka Denemarková China

Chinesisch, tschechisch, dystopisch

Haben die Ohnmächtigen die Möglichkeit, die herrschenden Verhältnisse zu verändern? Dieser Frage geht Radka ­Denemarková in ihrem in China spielenden Roman »Stunden aus Blei« nach.

»Ein Gespenst geht um in Osteuropa, ein Gespenst, das man in Westeuropa ›Dissidententum‹ nennt«, schrieb der tschechoslowakische Dramatiker Václav Havel 1978 in seinem Essay »Versuch, in der Wahrheit zu leben«. Unter den damals herrschenden politischen Verhältnissen stellte er sich jedoch die Frage, ob das staats­sozialistische System überhaupt von seinen Bürgern herausgefordert werden könne. Oder optimistischer formuliert: ob es eine »Macht der Ohnmächtigen« gebe.

Die tschechische Autorin Radka Denemarková greift diese Frage in ihrem monumentalen Roman »Stunden aus Blei« wieder auf, der kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen ist. Im 21. Jahrhundert geht das Gespenst des Dissidententums allerdings in China um, und die Frage, ob es in einem autoritären Staat überhaupt Handlungsmöglichkeiten für den Einzelnen gibt, stellt sich noch verzweifelter.

Radka Denemarková nahm Kontakt mit chinesischen Dissidenten auf und publizierte 2016 einen Essay in der regimekritischen Zeitschrift »Dandu«. Inzwischen hat sie ein lebenslanges Einreiseverbot nach China erhalten.

Tschechien und China sind über 7 000 Kilometer voneinander entfernt. In Denemarkovás Roman rücken sie jedoch eng zusammen. Die beiden Länder verbindet ein Geflecht von Figuren, zu dem auch eine chinesische Studentin gehört – wie die meisten Personen im Roman bleibt sie namenlos –, die eine Prager Schriftstellerin auf deren China-Reise bespitzeln soll. Die gemeinsamen Diskussionen und die Lektüre von Havels berühmtem Essay verändern jedoch den Blick der jungen Chi­nesin auf das Land, so dass sie bald selbst der Staatsmacht verdächtig ­erscheint.

Der Roman ist von ­Denemarkovás eigenen Aufenthalten in China inspiriert. »Als ich das das Land zum ­ersten Mal für eine Buchmesse besuchte, war ich absolut naiv«, sagt die Schriftstellerin im Gespräch mit der Jungle World. Erst allmählich sei ihr Blick weniger oberflächlich geworden und sie habe sich gefragt, wie das chinesische System funktioniere: »Ich hatte keinen Wortschatz für diese neue Form des Totalitarismus, ich musste das erst einmal für mich definieren.« Denemarková nahm Kontakt mit Dissidenten auf und publizierte 2016 einen Essay in der Zeitschrift Dandu, die der regimekritische Journalist Xu Zhiyuan herausgibt. Inzwischen hat sie ein lebenslanges Einreiseverbot nach China erhalten.

Auch der Bezug auf Havel in »Stunden aus Blei« hat einen realen Hintergrund. Die im Jahr 2008 veröffentlichte »Charta 08«, in der über 300 chinesische Intellektuelle und Bürgerrechtler unter anderem die Gewährleistung der Menschenrechte, Meinungsfreiheit und die Einführung einer Sozialversicherung forderten, hatte die »Charta 77« zum Vorbild, die Havel und seine Mitstreiter 1977 verfasst hatten.

Zwischen Havel und dem Großteil der Dissidenten im derzeitigen China besteht ein entscheidender Unterschied. »Wenn Havel damals verhaftet wurde, gab es sofort Proteste im Westen. Man konnte ihn nicht so leicht loswerden«, sagt Denemarková. »Aber was ist mit den vielen unbekannten tapferen Menschen in China, die das Regime einfach verschwinden lässt? Ihre Namen sind für immer vergessen.« Die Romanfigur der jungen Chinesin ist an eine Studentin aus dem Umfeld von Xu Zhiyuan angelehnt, die wegen kritischer ­Äußerungen verhaftet wurde und im Gefängnis starb.

Denemarková gilt als bedeutendste Vertreterin der tschechischen ­Gegenwartsliteratur. Sie wurde mehrfach mit dem renommierten Preis Magnesia Litera ausgezeichnet. Ihre Romane greifen immer wieder Themen auf, über die die Mehrheit der tschechischen Gesellschaft lieber schweigen würde. Auch »Stunden aus Blei« ist keinesfalls nur ein Roman über China. Die Verbindung von Kapitalismus und autoritärem Staats­sozialismus, die die Autorin im chinesischen KP-Regime erblickt, scheint auch für einige politische Figuren in Tschechien eine attraktive Alterna­tive zur parlamentarischen Demokratie zu sein. Der ehemalige Ministerpräsident Andrej Babiš, dem vorgeworfen wird, vor 1989 für die tschechoslowakische Staatssicherheit ­gespitzelt zu haben, beanspruchte, das Land wie einen Wirtschaftskonzern zu führen, während der derzeitige Staatspräsident Miloš Zeman die Nähe zu autoritären Regimen sucht. Bei einem Staatsbesuch in China ließ er verlauten, er sei nicht in das Land gekommen, um über Menschenrechte zu sprechen, sondern um zu lernen, »wie man das Wirtschaftswachstum steigert und die Gesellschaft stabilisiert«.

Auch die meisten tschechischen Figuren in »Stunden aus Blei« haben am chinesischen System wenig auszusetzen. Auf den immer gleich ablaufenden Empfängen in der Botschaft ihres Landes treffen verschiedene Personen aufeinander, die ihr individuelles Glück in China suchen: ein Programmierer, der die neoliberalen Ansprüche an das eigene Selbst verwirklichen möchte; ein Universitätsdozent, dem im autoritären Staat endlich der erhoffte Respekt zuteil wird; eine US-amerikanische Studentin aus einer tschechischen Familie, die in dem Land nichts als einen exotischen Ort zur Selbstverwirklichung sieht.

Die Romanhandlung wird dabei immer wieder von längeren essayistischen Passagen unterbrochen. ­Denemarková gelingt es, oft formulierte Dichotomien – die westlichen Demokratien hier, der autoritäre Staat dort, oder: die abgehängte alte Welt gegen die neue Supermacht – zu durchbrechen. Diese Unterschiede verschwimmen im Lauf der Lektüre immer mehr. Der chinesische Staat scheint aus den Fehlern des europäischen Realsozialismus gelernt zu haben. Die Verfolgung von Individuen, die von der politischen Linie abweichen, ist noch effizienter und brutaler geworden, zugleich hat die Anpassung an den globalen Kapitalismus für einen unvergleichlichen Aufschwung gesorgt. In dem derart beschriebenen China kann der Leser sowohl die tschechoslowakische Vergangenheit als auch eine mögliche dystopische Zukunft erblicken.

Der Roman zielt aber nicht nur auf die großen geschichtlichen Bewegungen. Mindestens genauso wichtig ist die Frage nach dem Verhalten des Individuums. Immer wieder taucht der Typus des mittelalten, chauvinistischen Mannes auf, der den Regeln folgt, egal ob sie von der Partei oder dem Markt vor­gegeben werden, und überzeugt ist, damit Ansprüche auf materielle Reichtümer und die Körper von Frauen zu erwerben. Er genießt es, zu herrschen und beherrscht zu werden. Erfolglosigkeit im Beruf oder beim Flirt führen nur zu noch größerer Verbissenheit und Gewalttätigkeit. Für den tschechischen Programmierer ist es bereits eine unerträgliche Kränkung, dass seine Tochter lieber Hannah Arendt und Jean Améry liest, als sich Gedanken über ihr Aussehen zu machen.

Denemarková ist gelungen, was sich die Figur der Prager Schrift­stellerin im Roman wünscht: Sie hat ein »starkes und zartes Buch« geschrieben. »Stunden aus Blei« ist schonungslos realistisch und doch nicht ohne Hoffnung, »ein Buch wie feine Pinselstriche mit rustikalem Pinsel«. Aus dem gezeichneten Panorama von Macht und Anpassung stechen nicht nur einzelne Figuren hervor, auch in Denemarkovás eigenwilliger Sprache findet der Mut zur Abweichung eine Zuflucht.

Poetische Schilderungen unbedeutend scheinender Alltagssituationen unterbrechen das gnadenlose Fortschreiten der Geschichte. Jeder einzelne Moment verlangt nach ­einem passenden Bild, Subjekte und Objekte tauschen ihre Eigenschaften und Substantive gehen Kombinationen mit Adjektiven ein, die man woanders noch nicht gesehen hat. Für den Leser, der vor allem wissen möchte, wie es mit den Figuren ­weitergeht, mögen diese Passagen herausfordernd sein. Aber sie geben eine ganz eigene Antwort auf die Frage, die Havel vor über 40 Jahren ­gestellt hat: Vielleicht besteht die »Macht der Ohnmächtigen« auch da­rin, die semantische Ordnung herauszufordern und zu zeigen, dass die Welt nicht so bleiben muss, wie sie zu sein scheint.

Radka Denemarková: Stunden aus Blei. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová. Hoffmann und Campe, Hamburg 2022, 880 Seiten, 32 Euro