Der »Islamische Staat« hat Waffenlieferungen über türkische Firmen erhalten

Einkaufen für den Terror

Ein Bericht der Abteilung für Finanzkriminalität im türkischen Finanzministerium lässt darauf schließen, dass die Terrororganisation »Islamischer Staat« Waffen über türkische Firmen erhalten hat.

»Es sieht so aus, als ob die wichtigste Lieferkette für die Bewaffnung des ›Islamischen Staats‹ (IS) in der Türkei angesiedelt ist.« Alpay Antmen, Abgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) aus dem Wahlkreis Mersin, sprach am 4. Februar im türkischen Parlament in einer Anfrage an Innenminister Süleyman Soylu damit eine Vermutung aus, die manche Beobachter bereits seit Jahren hegen. Doch nun scheint ein Regierungsdokument diese Annahmen zu bestätigen.

Aber der Reihe nach: Die Abteilung für Finanzkriminalität (Masak) im türkischen Finanzministerium erstellt akribisch Berichte über das Einfrieren der Vermögenswerte von Personen, die nach offizieller türkischer Lesart in terroristische Aktivitäten verwickelt sind. Dazu zählen in erster Linie unliebsame Oppositionelle, wie der im Exil lebende Journalist Can Dündar, der bereits 2015 als Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet geheime Infor­mationen über als Hilfsgüter getarnte Waffenlieferungen nach Syrien veröffentlicht hatte. Dündars Informationen wurden nie dementiert, der Journalist wurde aber wegen Landesverrats angeklagt, sein Privatvermögen eingefroren. Regierungsnahe türkische Medien thematisierten Dündars Schicksal ausführlich und hämisch.

Dem Geheimbericht zufolge sollen IS-Mitglieder mit Hilfe von in der Türkei ansässigen Unternehmen Aus­rüstung und Teile zur Her­stellung von Drohnen und Sprengkörpern gekauft haben.

Nun wurde der türkischen opposi­tionellen Tageszeitung Bir Gün ein geheimer Bericht vom März 2021 zugespielt, in dem Masak auf 279 Seiten in­ter­nati­onale Seilschaften im Waffenhandel dokumentiert. Pikant für die Türkei: Es handelt sich um Personen, die über türkische Firmen Waffen an den IS geliefert haben sollen. Dem Dokument zufolge sollen IS-Mitglieder mit Hilfe von in der Türkei ansässigen Unternehmen Ausrüstung und Teile zur Herstellung von Drohnen und Sprengkörpern gekauft haben; für den Geldtransfer nutzten die Jihadisten Wechselstuben, Postämter und Banken. Der Bericht weist auf die Unternehmen hin, die angeblich an diesem Geschäft beteiligt waren: Altun Inci, Mavi Yelken und Elfarah, die in der Küstenprovinz Mersin ansässig sind und sich seit ihrer Gründung in den Jahren 2014 beziehungsweise 2016 dem Handel mit Bau- und Industriematerialien widmen. Hinter diesen Unternehmen steht der in Aleppo geborene Ibrahim Hag Gneid, der sie zusammen mit zwei syrischen Geschäftspartnern betrieben haben soll. Alle drei erhielten 2017 die türkische Staatsbürgerschaft, ein Pri­vileg, das den meisten der über 3,6 Millionen in der Türkei lebenden Syrerinnen und Syrer, der Großteil davon Geflüchtete, nicht gewährt wird. Als tür­kischer Staatsbürger ist man geschäftsfähig und benötigt keine Garantien wie türkische Bürgen oder Partner für Transaktionen, wie es für Ausländer erforderlich ist.

Der Bericht umfasst die weiten Verzweigungen des Netzwerks, zu dem neben dem Trio um Gneid zwei Türken gehören sollen, die dafür sorgten, dass die Firma Mavi Yelken (Blaues Segel) Mitglied in der staatlich anerkannten türkischen Vereinigung der Exporteure der Mittelmeerregion werden konnte. Die Firmen sollen einem internationalen Netz von Jihadisten gedient haben, die ihre Geschäfte als Lieferungen von Bautechnologie getarnt und die Transporte über den Hafen von Mersin ab­gewickelt haben sollen. Abu Naeema al-Turkistani, ein chinesischer Staatsbürger uigurischer Herkunft, soll bereits 2015 Materialien für die Herstellung von Waffen im Wert von etwa 85 000 US-Dollar bei einem in China ansässigen Unternehmen bestellt haben. Turkistani und seine Frau Minawaer Maitituersun werden außerdem beschuldigt, einer IS-Einheit anzugehören, die für die Herstellung chemischer Waffen verantwortlich ist. Die Unternehmen sollen in der Vergangenheit auch von Sajid Farooq Babar, einem als Abu Muaz Pakistani bekannten pakistanischen Staatsangehörigen, zur Lieferung großer Mengen Material an die Terrororganisation genutzt worden sein. Babar wurde 2017 zusammen mit zwei weiteren IS-Drohnenexperten bei einem US-Luftangriff in Syrien getötet.

Nun könnte die Existenz des Masak-Berichts darauf hindeuten, dass die türkischen Behörden versuchten, diese Geschäfte zu unterbinden. Doch der Abgeordnete Antmen bezweifelt das. »Diese dunklen Geschäftsbeziehungen reichen bis zu einer in China eingerichteten E-Commerce-Plattform. Was für Konsequenzen ziehen Sie daraus?« fragte er den Innenminister. 2019 wurde Gneid zwar als Hauptverdächtiger für Waffenlieferungen an den IS auf Betreiben der türkischen Staatsanwaltschaft festgenommen, konnte anschließend aber auf wundersame Weise aus der Untersuchungshaft entfliehen. Antmens Recherchen ergaben, dass die ­involvierten Firmen trotz dieser drei Jahre alten Erkenntnisse weiterhin ­aktiv seien und Gneid immer noch in zwei der Unternehmen als Geschäftsführer fungiere, gegen andere Partner werde nicht einmal ermittelt. Er forderte den Innenminister auf, die Menge an geliefertem Waffenmaterial, dessen Standorte und die Lieferwege publik zu machen.

Eine Antwort auf Antmens Anfrage steht noch aus, doch viele weitere Fragen sollten folgen. Das Auftauchen des Berichts kurz nach der Militäroperation von US-Streitkräften gegen den IS in Nordsyrien am 3. Februar, bei der der IS-Anführer Abu Ibrahim al-Qurashi ums Leben kam, deuten darauf hin, dass innerhalb des türkischen Staatsapparats die Opposition aktiv nach Beweisen sucht, um intern längst Bekanntes an die Öffentlichkeit zu bringen.

Auch die Tatsache, dass sowohl der frühere IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi 2019 als auch dessen Nachfolger al-Qurashi in der Provinz Idlib ums Leben kamen, nahe der türkischen Grenze, sollten international zu denken geben. Die Schlupfwinkel der beiden getöteten IS-Führer hätten sich unweit von türkischen Kontrollposten befunden, berichtete CBS News am 11. Februar. Idlib steht unter türkischer Kontrolle. Der Direktor des Syrien-Programms des in Washington angesiedelten Middle East Institute, Charles Lister, sagte »dass die Türkei sich entweder der Inkompetenz schuldig gemacht oder einen IS-Anführer versteckt hat«.

Die Türkei gehört zwar zur Internationalen Allianz gegen den »Islamischen Staat«, doch ihr eigentlicher regionaler Gegner war und ist die kurdische PKK. In Syrien sind die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), ein Verbund arabischer, christlicher und kurdischer Milizen, Verbündete des Westens im Kampf gegen den IS. Dominiert werden die SDF aber von den YPG, einem Ableger der PKK in Syrien. Die SDF beschuldigen die Türkei, von Idlib aus Aktionen gegen Gefangenenlager, in denen IS-­Angehörige interniert sind, zu steuern, um diese zu befreien. Die Türkei dementiert dies und wirft den kurdischen Truppen der SDF dort Menschenrechtsverletzungen an Gefangenen und Teilen der Zivilbevölkerung vor. Militärisch hat die Anti-IS-Koalition die Terrormiliz im März 2019 von ihrem vorherigen Territorium in Syrien vertrieben, doch Wladimir Woronkow, Untersekretär des UN-Büros für Terrorismusbekämpfung, wies bereits 2020 darauf hin, dass die Bedrohung durch den IS sowohl in Syrien als auch im Irak immer noch sehr hoch sei. 6 000 bis 10 000 Kämpfer verübten weiterhin Überfälle und Bombenanschläge. Die Frage, wer sie bewaffnet, sollte eine hohe Priorität haben. Es ist derzeit unklar, ob die starken Hinweise und Indizien, die von of­fiziellen türkischenStellen zu stammen scheinen, internationale Konsequenzen haben.