Die Historische Europäische Kampfkunst

Erschrickst du gern, kein Fechten lern’!

Was fasziniert am mittelalterlichen Fechten? Und passen ein vernunftorientiertes Weltbild und so etwas Martialisches überhaupt zusammen?

Wruuusch. Wruuusch. An Plastikketten rotieren drei neongrüne Gummibälle über meinem Kopf, malen die Enden des Flegels, an dem sie hängen, rasend Achten in die Luft. Für den Kampf mit dem spanischen Mangual (Flegel), eigentlich ein Holzschaft mit Metallketten und -kugeln, habe ich mir wie die anderen Trainierenden in der Neuköllner Sporthalle die Übungswaffe aus Hundespielzeug und Baumarktutensilien gebaut. Nebenan in der Halle trifft tatsächlich Stahl auf Stahl, beackern sich Paare in schwarzen Schutzmonturen mit langen, stumpfen Klingen. Scharfe Schwerter hingegen zerteilen bei Schnitttests Bambusmatten und Lehmbatzen.

Solche Großtreffen historischer Fechter, bei denen mehr als 100 Menschen zusammenkommen, finden derzeit nicht statt. Mehrere Quasi-Lockdowns trieben die Fechter hinaus zum Solo-Training ins Grüne. Dort musste ich mich mehr als einmal erklären, warum ich seit sieben Jahren mit Freuden Freunde mit dem Schwert traktiere. Und mittlerweile auch als Trainer in der Stahlakademie Leipzig den Umgang mit Speer, Schwert, Buckelschild und anderem lehre.

Einige Techniken des mittelalterlichen Fechtens sind denen asiatischer Kampfkünste gar nicht unähnlich.

Meinen Sport muss ich oft erläutern. Denn hören Menschen »historisches Fechten«, denken sie nicht zuerst an Bewegungsfreude und schon gar nicht an etwas Elegantes. Am ehesten denken sie an Mittelaltermarkt, aber wir kostümieren uns nicht, sondern tragen moderne Sportkleidung. »Schwertkampf« klingt noch martialischer, nach kraftstrotzendem Muskelmacho zwischen Barbar Conan und Nachtwächter Jon Snow. Und wie man links sein und dann so etwas Kriegerisches betreiben kann, das finden auch einige Leute erklärungsbedürftig. Und ja, Frauen gibt es ebenfalls bei uns – auch wenn es mehr sein könnten.

Natürlich haben wir historischen Fechter einen Spleen, aber trifft das nicht auf jeden schweißtreibenden Sport zu? Ich hatte lange nach einer passenden Form der Bewegung gesucht, wegen Rücken und so. Ich könnte durch die Seenlandschaft joggen, was ich, von der Aussicht abgesehen, ziemlich langweilig finde. Eben­so wenig ziehen mich Fitnesscenter an. Asiatische Kampfkünste wie Judo und Karate habe ich früher jahrelang trainiert – auf die dort herrschende disziplinierte Verschulung, das streng hierarchische Gürtelsystem und die Nichtüberprüfbarkeit der meisterlichen Wahrheiten habe ich keinen Bock mehr. Und damit sind die Vorteile des historischen Fechtens schon benannt: Spaß, freie Gruppenstruktur, undogmatische und transparente Lehre. Dazu kommt, wie erstaunlich ­filigran man mit einem satten Kilo Stahl hantieren kann.

Hema – Historical European Martial Arts, Historische Europäische Kampfkunst – nennt sich die junge Szene offiziell, die Sport mit historischer Quellenkunde verbindet. Darunter fällt vieles, vom Kurzschwert der römischen Legionäre über die Streitaxt der Wikinger bis zum napoleonischen Militärsäbel. Die sogenannten Fechtbücher enthalten Anweisungen, wie man mit Langschwert, Dolch und Stange umgeht oder Gegner zu Boden ringt. Wir versuchen, diese historischen Techniken möglichst realistisch mit nach dem Vorbild alter Waffen gestalteten Trainingsgeräten zu rekonstruieren und sie den Schülern mittels moderner Trainingslehre beizubringen. So entsteht eine Mischung aus historischer Arbeit und Bewegungskunst, Kampfsystem und Adrenalinschüben, Spielspaß und Fitmacher.

Ich beschränke mich auf die Zeit des Spätmittelalters und der Renaissance, weil aus dieser Schrift- und Bildquellen erhalten sind, und konzentriere mich auf das Umfeld von Johannes Liechtenauer. Das Leben dieses Schwertmeisters ist nur indirekt überliefert, erst seine Schüler und deren Schüler haben seine Lehre verschriftlicht. Irgendwann in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts geboren, hat er wahrscheinlich auf der Walz verschiedene Techniken, das Schwert handzuhaben, kennengelernt und systematisiert. Damals wurden »heimliche« Lehren, also die Berufsgeheimnisse, von den Handwerksmeistern mündlich in Reimform weitergegeben. Liechtenauers später aufgeschriebene Verse lesen sich verrätselt: »Wer dir oberhawt zorñhaw ort dem drawt.« Einige Kenntnisse im Frühneuhochdeutschen sind fürs Studium der Manuskripte schon nötig. Der Kopf ist also auch gefragt bei der Rekonstruktion.

Wer nur trainieren will, muss sich auf uns Trainer verlassen. Obiger Satz lautet verständlicher: Wer von oben mit dem Schwert zu dir schlägt, dem droht eine Kombination namens »Zornhau-Ort«. Ich haue demzufolge mein Schwert in einem physikalisch günstigen Winkel in seine halbkreisförmige Hieblinie. Ist mein Kontrahent infolgedessen »schwach am Schwert«, also lässt meiner Klinge freie Bahn, setze ich einen Stich mit der Spitze (»Ort«) nach.

Die Fechtbücher lassen sich mit Kochbüchern vergleichen, sie beinhalten dynamische Rezepte für den Zweikampf. Unsere Küchenmaschine, also die Hauptwaffe, ist das Langschwert. Mit einer Länge von circa 1,40 Meter wird es zweihändig geführt und wiegt rund anderthalb Kilo. Weil auch stumpfe Stahlklingen nicht ungefährlich sind, tragen wir Handschuhe und eine verstärkte Fechtmaske. Trainieren wir nicht kooperativ oder ziehen ins Turnier, ist kompletter Körperschutz Pflicht.

Von »Hut« und »Hau« ist oft die Rede. Ein Hau ist der Hieb, die Hut – man denke an die Redewendung »auf der Hut sein« – ist eine defensive Durchgangsstation für den nächsten Schwerthieb. Diese Huten haben bildliche Namen wie »Pflug« und »Ochs«. Bei Letzteren droht man mit den Händen über dem Kopf und nach unten gesenkter Schwertspitze wie das männliche Rindvieh mit seinen Hörnern. Eigentümlich scheinen die Begriffe, sind weder alltäglich noch technisch, doch irgendwie intuitiv verständlich. Im Kampf gilt es, im »Indes« abzuwarten, was der aktive Gegner, er ist im »Vor«, so vorhat. Im günstigen Moment soll man indes zuschlagen und ihn ins »Nach« befördern. Es gibt den Mordhau, das Schnappen, Nachreisen und Durchlaufen.

Die Menschen des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit schlugen nicht ungelenk mit Blankwaffen aufeinander ein, das machen die Quellen deutlich. Einige Techniken sind denen asiatischer Kampfkünste gar nicht unähnlich. Während diese durch Bruce Lee, Chuck Norris et al. in den siebziger Jahren ihren Siegeszug in der westlichen Populärkultur antraten und einen Boom von Karate- und Kung-Fu-Schulen auslösten, entdeckten Enthusiasten das historische Fechten erst vor rund 30 Jahren wieder. Das Internet half der Szene: Digitalisierungen von Fechtbüchern verbreiteten sich, in Foren wurden verschiedene Technikinterpretationen diskutiert. Mit Wiktenauer.com existiert ein eigenes Online-Lexikon mit Fechtbuchdatenbank – ein Kofferwort aus »Wiki« und Johannes Liechtenauer. Mittlerweile gibt es ein internationales Netz von Gruppen und Aktiven, die komisch klingende Namen wie Twerchhau, Lange Schneid oder Drey Wunder tragen – oder eben wie wir ironisch Stahlakademie heißen.

Knapp 5 000 Fechtende sind es hierzulande, wie der Deutsche Dachverband für Historisches Fechten e. V. schätzt. Denn natürlich gibt es in Deutschland einen Verein, auch wenn dort nicht alle organisiert sind. Bei rund 20 Prozent liegt der Frauenanteil. Natürlich könnte der höher sein, an einem Machotum liegt dieses Ungleichgewicht aber nicht, denn solches Gebaren wird meiner Erfahrung nach in den wenigsten Gruppen toleriert. Natürlich ist die Szene nicht frei von revanchistischen Tendenzen. Dagegen beziehen Initiativen wie die Fighters Against Racism Stellung, andere haben selbstbewusst den Regenbogen als ihre Farben gewählt. Als das Haus der »Identitären Bewegung« in Halle an der Saale mit dem Waffennamen »Flammenberg« an eine Tradition des Fechtens anknüpfen wollte, folgte aus der Hema-Szene ein Empörungssturm.

Schwertkampf ist kein halbstatisches Hin und Her, wie es Hollywood-Filme zeigen oder der Komödienheld Cyrano de Bergerac mit flinker Zunge dichtet: »Deinen Widerstand zerbrech ich: / Finte! Quart! (Zustoßend.) Da hast du’s, Laffe! / Denn beim letzten Verse stech ich.«

Hochdynamisch läuft der Clinch ab, ist in Sekundenschnelle vorbei und ein Kontrahent ist von der Klinge getroffen. Stellt das kooperative Techniktraining eine gute Schule für die Koordination und Kondition dar, so ist der sogenannte Freikampf schweißtreibend und besonders fordernd. Und peitscht das Adrenalin nach oben. Möglicher Ablauf: Durchs Drahtgeflecht der Schutzmaske nehme ich meinen Kontrahenten wie durch ein Sieb ins Visier. Sehe ich, wie dessen Schwertspitze plötzlich auf mein Gesicht zuschießt, pariere ich instinktiv mit einem Hieb in seine Schwertlinie hinein. Um dann mit dem Kontakt am anderen Schwert weiter zu fechten. Ich spüre beim Klingenkreuzen seinen Druck, wie er versucht, mein Schwert kraftvoll beiseite zu drücken. Behände reiße ich mein Schwert kurz hoch, aufgrund des nun fehlenden Widerstands fliegt der gegnerische Stahl zur Seite und ich nutze den freien Weg für einen Schlag auf den Kopf. Oder es passiert anders herum und es scheppert dumpf auf meiner Fechtmaske.

Das muss hinnehmen, wer in dieser Kampfkunst bestehen will. Bereits Meister Liechtenauer mahnte: »Erschrickst du gern, kein Fechten lern’!«