»Hot takes« zu Putin

Das Prinzip Schrotgewehr

Linke und ihre »hot takes« zu Putin
Die preisgekrönte Reportage Von

Das E-Mail-Postfach von Jonas Kretzner steht gar nicht still. »Wir haben gerade besonders Anfragen aus Berlin und NRW. So viele Seminarplätze haben wir gar nicht!« Es geht zu wie im Taubenschlag, hier im Diether-Dehm-Hot-Take-Seminarzentrum in Köln.
»Hier lernen linke Ortsbeiräte, bequem aus dem eigenen Gaming-Stuhl geopolitische Globalanalysen zu schreiben«, sagt Kretzner. »Mit nichts weiter bewaffnet als Facebook-Überschriften, Meme-Wissen und zwei Semestern Marx-Lesekreis.« Gerade jetzt, in Kriegszeiten, werde die Linke als Welterklärerin gebraucht.

»Zunächst einmal gilt es, das Selbstbewusstsein unserer Seminaristinnen und Seminaristen aufzubauen. Viele kommen mit einem negativen Selbstbild: Bin ich nicht völlig inkompetent auf diesem Gebiet, lautet eine typische Frage. Bin ich überhaupt befähigt, Sachverhalte wie etwa einen CIA-Bericht zu beurteilen? Stehe ich nicht als kompletter Depp da, wenn meine Theorien über den Friedensfürsten Putin schon zwölf Stunden später von der Wirklichkeit überrollt werden?« In den Selbst­bewusstseinsseminaren lernt man: Nein, du bist wertvoll, deine Pro­jektionen und dein gefühltes Wissen über die »russische Seele« reichen völlig aus.

»Dann geht es auch darum, kognitive Dissonanzen aufzulösen. Viele unserer Seminarteil­nehmer mögen die AfD, die Querfront, Qanon, Trump und die ganzen anderen nicht. Sie ziehen aber gedanklich immer noch eine Ver­bindung zwischen all den Rechtsextremen, den gekauften westlichen Politikern und dem Regime in Moskau. Deswegen ist es wichtig, ihnen vor Augen zu führen: Der Putin, der die faschistische Internationale durchfüttert und von ihr abgöttisch geliebt wird, ist ein völlig anderer Putin als der vom Konkret-Cover, der hilflos von der Nato in die Ecke ­gedrängt wird und gar nicht anders kann, als in seiner Verzweiflung andere Länder zu überfallen.«

Natürlich könnte man es als abgefahren bezeichnen, wenn linke Spitzenanalytiker ihre über Jahre vorgetragenen Märchen innerhalb ­eines Tages komplett revidieren müssen, gesteht Kretzner zu. »Und natürlich ist da die Frage: Kann man der Linken nach all diesem Mist überhaupt noch was glauben?« Hier gelte das Prinzip Schrotgewehr: Wenn nur genügend Linke immerzu genügend hot takes vortragen, wird irgendeiner davon schon zutreffen.

 

Aus der Urteilsbegründung: Leo Fischers preisgekrönte ­Reportagen sind in hohem Maße fiktiv. Ähnlichkeiten mit realen Personen und Geschehnissen sind unbeabsichtigt.