Die russische Regierung unterdrückt Proteste gegen den Krieg und zensiert Medien

Der Krieg hinter der Grenze

Die russische Regierung versucht, mit Zensur und Propaganda die Rea­­­lität des Kriegs in der Ukraine vor der russischen Bevölkerung zu verber­­gen. Die Staatsführung demonstriert Geschlossenheit, doch landes­weit gab es in zahlreichen Städten erste Antikriegs­demons­trationen.

»Man ließ uns keine Chance, anders zu handeln.« Dieser Spruch prangt seit voriger Woche auf riesigen Werbetafeln in St. Petersburg, der Herkunftsstadt von Wladimir Putin. Daneben ist ein Porträt des russischen Präsidenten abgebildet, dessen starrer Blick in unbekannte Ferne gerichtet ist. In dieser kurzen Formel spiegelt sich die von der ­Regierung verbreitete Lesart des Krieges in der Ukraine wider, der der russischen Bevölkerung als schicksalsträchtiger Kampf ums Überleben des Landes präsentiert wird. Dabei sind sich in Russland vermutlich noch nicht einmal alle Menschen bewusst, dass überhaupt Krieg herrscht.

Jekaterina Andrejewa, langgediente Nachrichtensprecherin beim ersten staatlichen Fernsehkanal, leitete ihre Moderation am Montagabend mit den Worten ein, es sei der »fünfte Tag der Operation, die das russische Militär in der Ukraine durchführt, um die Bewohner des Donbass vor den Schikanen durch Kiew zu schützen«. Exakt davon war in den folgenden Beiträgen die Rede. Berichte über Beschuss durch die ukra­inische Armee und Todesopfer unter der Zivilbevölkerung in den vergangene Woche von Russland offiziell anerkannten Volksrepubliken sollen den Einsatz russischer Truppen in der Ukraine plausibel erscheinen lassen.

In den ersten fünf Tagen seit Beginn der Invasion gab es russland­weit etwa 6 500 Fest­nahmen bei Protesten gegen den Krieg.

Umfrageergebnisse des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM ergaben Ende Februar, dass 68 Prozent der russischen Bevölkerung den Militäreinsatz in der Ukraine befürworten, 22 Prozent sprachen sich dagegen aus. Gefragt nach den Gründen der Invasion, war rund ein Viertel überzeugt, dass der Einmarsch eine Maßnahme zum Schutz der Interessen der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass darstelle, ein Fünftel glaubte, damit solle die Errichtung von Nato-Basen auf ukrainischem Gebiet verhindert werden, ebenso viele dachten, die Invasion diene der Einrichtung einer demilitarisierten Zone. Eine Minderheit, nämlich sieben Prozent, antwortete, Russland müsse die ukrainische Bevölkerung »entnazifizieren«, sechs Prozent vermuteten, der Kreml beabsichtige, einen Regimewechsel in der Ukraine zu erreichen. All diese Erklärungsmuster propagieren die russischen Staatsmedien und werden von ihren Konsumenten offenbar wie angestrebt aufgefasst. Einzig die Bezeichnung »Drogenbande«, mit der Putin einen Tag nach dem Angriff die Kiewer Regierung diffamierte, fand keinen Anklang unter den Befragten.

In den ersten fünf Tagen seit Beginn der Invasion gab es landesweit etwa 6 500 Festnahmen bei Protesten gegen den Krieg. Bereits am Abend des 24. Fe­bruar ging die Moskauer Polizei gegen größere Menschenansammlungen an zentralen Orten vor. Immer wieder wurden auch zufällige Passanten heraus­gegriffen. Die Taktik der mehrheitlich unter 30jährigen Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner bestand darin, sich auf den Bürgersteigen durch die Innenstadt zu bewegen, nicht auf den Straßen. Andernfalls droht ein Strafverfahren. In St. Petersburg schlugen behelmte Sicherheitskräfte teilweise auf am Boden liegende Protestierende ein.

Demonstrationsaufrufe häufen sich, aber eine Koordination findet bislang nur im Ansatz statt. Durch das Verbot des Netzwerks von Büros des in Haft sitzenden Oppositionellen Aleksej Nawalnyj fehlt es an einer funktionierenden landesweiten Struktur. Leonid Wolkow, Nawalnyjs rechte Hand, rief mittlerweile zwar per Video zu zivilem Ungehorsam auf, aber eine solche Ansage geht im allgemeinem Nachrichtenfluss unter. Dezentrales Handeln ist das Gebot der Stunde. So folgten am Sonntag viele Menschen einem Aufruf der Gruppe Wesna, die für Dutzende Städte feste Treffpunkte bestimmt hatte.

Für Moskau wählte die Gruppe als Treffpunkt das »Ministerium für Kokain-Angelegenheiten« – mit dieser wenig respektvollen Bezeichnung war das russische Außenministerium gemeint. Diese Zuschreibung hat einen Grund: 2017 wurden auf dem Gelände der rus­sischen Botschaft in Buenos Aires zwölf Koffer mit Kokain sichergestellt, die zur Verschickung per Diplomatenpost nach Russland vorgesehen waren. Vor einem Monat wurden in Moskau mehrere Männer wegen Drogenschmuggels zu hohen Haftstrafen verurteilt, darunter ein Botschaftsangestellter. Wer jetzt in Russland offen gegen den Militärangriff gegen die Ukraine protestiert, distanziert sich vom Putin-Staat als ganzem, auch verbal.

Im russischen Kulturbetrieb erheben einige ihre Stimme gegen den Krieg. Die Mehrheit derer, die sich jetzt äußern, waren schon vorher durch gesellschaftskritische Äußerungen aufgefallen, wie die populären St. Petersburger Rockmusiker Boris Grebenschtschikow oder Jurij Schewtschuk. Auch die Rapper Oxxxymoron und Morgenstern gelten schon länger als enfants terribles – Letzterer verließ Russland im Herbst, um sich strafrechtlichen Ermittlungen wegen Drogenhandels zu entziehen. Aber selbst Fernsehgrößen wie der Talkmaster Iwan Urgant verurteilen den Krieg. Seine Sendung wurde prompt aus dem Programm genommen. Theaterleute wiederum verzichten aus Protest freiwillig auf staatliche Honorare. Der Journalist und Videoblogger Jurij Dud, der auf Youtube fast zehn Millionen Follower hat, rief russische Geschäftsleute auf, ihren Einfluss auf Putin geltend zu machen – sollte der Präsident überhaupt noch auf jemanden hören.

Unter Russlands Superreichen dürfte statt patriotischer Kampfstimmung die Sorge um das angehäufte Vermögen vorherrschen. Oleg Deripaska, Miteigner des Konzerns Rusal, der nie Zweifel an seiner Loyalität zum Kreml aufkommen ließ, hatte Friedensverhandlungen gefordert, noch bevor er die russische Regierung für ihre Eilmaßnahmen zur Abfederung der Sanktionen westlicher Staaten kritisierte. Die Anhebung des Leitzinses und der verpflichtende Verkauf von Devisen seien »ein erster Test dafür, auf wessen Kosten dieses Bankett tatsächlich gehe«, beschwerte er sich auf seinem Telegram-Kanal. Von der Regierung erwarte er Erklärungen, wie es mit der russischen Wirtschaft weitergehen solle.

Sollte sich die russische Staatsführung ernsthaft Sorgen über ihre Zukunft machen, dringt dazu jedenfalls nichts nach außen. Der Staatsapparat agiert bislang wie immer, beflissen dar­auf ausgerichtet, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten und der Führung zu folgen. Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor sorgte dafür, dass Facebook, Twitter, Instagram und der Kurzvideodienst Tiktok nur noch mit Einschränkungen funktionieren, sofern man keine VPN-Verbindung hat. Unabhän­gige Medien sind angehalten, ihre Berichterstattung über den Krieg den offiziellen Vorgaben anzupassen – wenn auch bisher weitestgehend ohne Erfolg. Der Fernsehjournalist Walerij Fadejew forderte in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Menschenrechtsrats beim russischen Präsidenten, seinen Vorgesetzten auf, Facebook bis zur Beendigung der sogenannten Sonderoperation in der Ukraine gleich komplett abzuschalten. Und die Generalstaatsanwaltschaft erinnerte daran, dass das russische Strafrecht Haftstrafen bis zu 20 Jahren wegen finanzieller oder sonstiger Unterstützung ausländischer Organisationen vorsieht, deren Aktivitäten sich gegen die Sicherheit Russlands richten.

Aber wer will, kann auch von Russland aus im Internet ohne Schwierigkeiten die ukrainische Sichtweise auf den Krieg verfolgen. Während das russische Verteidigungsministerium erst nach Tagen zugab, es habe Tote unter russischen Militärangehörigen gegeben, sind nach ukrainischen Angaben Tausende russische Soldaten gestorben. Sergej Melikow, Präsident der russischen, im Nordkaukasus gelegenen Republik Dagestan, wagte es als erstes Oberhaupt einer Teilrepublik, offen sein Beileid für einen in der Ukraine getöteten russischen Soldaten auszudrücken. Selbst Tschetscheniens autokratisch ­regierender Präsident Ramsan Kadyrow gab am Dienstag zu, dass zwei der in die Ukraine entsendeten tschetschenischen Angehörigen der Nationalgarde ums Leben gekommen seien.

Als Scharfmacher verkündete Kadyrow, 10 000 Kämpfer aus der Teilre­publik Tschetschenien in den Krieg zu schicken, aber auch er kann nicht verbergen, dass es in der Ukraine für die russischen Truppen nicht läuft wie zunächst gedacht. Putin mag mit einem Blitzkrieg gerechnet haben, der nur ­begrenzte Ressourcen erfordert – darauf jedenfalls verweist die unzureichende logistische Planung. Die Realität zeigt eine russische Armee, deren Panzern der Treibstoff beim Vorrücken ausgeht, deren Soldaten unzureichend mit Verpflegung ausgestattet sind und die offenbar oftmals keine Ahnung hatten, dass sie in die Ukraine einmarschieren würden. Ruslan Lewijew, Gründer des russischen Conflict Intelligence Team, das zugängliche Daten über die Armee analysiert, meint sogar, dass russische Truppen trotz ihrer überlegenen Zahl und Feuerkraft Kiew nicht besetzen könnten.

Die ukrainische Regierung versucht, in allen Landesteilen Zivilisten in territorialen Verteidigungseinheiten zu organisieren. Die Grenzen wurden für Männer im Alter von 18 und 60 Jahren geschlossen worden. Laut UN sind bis Anfang März bereits über eine halbe Millionen Menschen aus der Ukraine in die EU geflüchtet, noch mehr Menschen sind innerhalb der Ukraine in den Westteil des Landes geflohen. Die russische Armee bewegte Anfang der Woche große Truppenverbände in Richtung Kiew. Journalisten vor Ort berichten am Dienstag von chaotischen Szenen, als zahlreiche Zivilisten versuchten, die letzte Chance zu ergreifen, die Stadt noch zu verlassen.