Immer mehr lateinamerikanische Länder haben linke Regierungen

Linkswende light

In Lateinamerika kommen wieder mehr linke Regierungen ins Amt. Besonders jungen Menschen ist klar geworden: Die Demokratisierung der Region bedeutete keine Veränderung der Eigentumsverhältnisse. Doch anders als vor 20 Jahren geht der Erfolg der linken Parteien nicht mit einem wirtschaftlichen Aufschwung einher.

Damares Alves scheint es mit der Angst zu bekommen. Die evangelikale Pastorin und brasilianische Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte veröffentlichte am 20. Dezember auf Twitter ein Bild der Landkarte Südamerikas. Auf dieser waren Venezuela, Bolivien, Peru, Argentinien und Chile mit Hammer und Sichel versehen. Dazu schrieb sie, die »wichtigste Wahl der Welt im Jahr 2022« spiele sich in Brasilien ab. Im Oktober soll sich dort der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro zur Wiederwahl stellen, doch der aus dem Gefängnis entlassene 76jährige Luiz ­Inácio Lula da Silva vom Partido dos Trabalhadores (PT, Arbeiterpartei), Präsident von 2003 bis 2011, könnte eine zweite Amtszeit Bolsonaros verhindern.

Der Kommunismus droht in Lateinamerika freilich nicht, dennoch verweist Alves in ihrer Hysterie auf einen Trend: Zum zweiten Mal seit der Jahrtausendwende könnte Lateinamerika in weiten Teilen von Linken regiert werden – die zweite »pink tide« ist da. Es gibt – karibische Kleinststaaten ausgenommen – 20 souveräne Staaten in Lateinamerika. Wurden vor vier Jahren noch zwölf davon von Rechten regiert und nur acht von Linken, war Ende 2021 bereits ein Ausgleich eingetreten. Mit dem Wahlsieg von Gabriel Boric im Dezember in Chile und von Xiomara Castro im Januar in Honduras sind die linken Regierungen nun wieder in der Mehrheit. Sollten sich Alves’ Ängste bestätigen und Bolsonaro die Wahlen im Oktober verlieren (was den Umfragen zufolge sehr wahrscheinlich ist) und außerdem eintreten, was lange Zeit undenkbar schien, nämlich der Wahlsieg eines linken Kandidaten in Kolumbien im Mai, wird aus dem Trend eine eindeutige Tendenz – selbst wenn Costa Rica im April ins rechte Lager wechseln sollte. Alle regionalen Schwergewichte wären dann links regiert: Mexiko, Argentinien, Chile, Kolumbien und Brasilien. Rechte Regierungen fänden sich dann hauptsächlich noch in Zentralamerika und der Karibik oder kleineren Staaten wie Ecuador, Paraguay und Uruguay.

Die linken Regierungen werden weiterhin auf Klassenkompromisse angewiesen sein, um Mehrheiten zu organisieren, Kapitalflucht zu vermeiden und schwere gesell­schaftliche Konflikte zu verhindern.

Freilich bezeichnen die Begriffe »links« und »rechts« höchst heterogene Bewegungen, Parteien und Personen und ihr Erfolg erklärt sich meist eher aus nationalen Gegebenheiten. So ist Borics Sieg in Chile ein Ergebnis der Proteste des vergangenen Jahrzehnts, die sich gegen die große soziale Ungleichheit im Land richteten und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung zur Folge hatten. Die Wahl Xiomara Castros in Honduras richtete sich gegen den korrupten Narco-Staat und erfolgte damit ebenso aus spezifischen innenpolitischen Gründen wie der Sieg Manuel López Obradors 2018 in Mexiko oder auch der des Linksperonisten Alberto Fernández 2019 in Argentinien.

Dennoch gibt es überregionale Gemeinsamkeiten, die der Trendwende zugrunde liegen. Zunächst gleichen sich die ökonomischen Gründe. Nirgends ist die Ungleichheit schreiender als in Lateinamerika. Das heißt, dass nicht nur viele Menschen in Armut leben, sondern sie auch permanent mit dem Reichtum der anderen konfrontiert sind. Der Unmut hierüber war immer Quelle sozialer Unruhen. Im vergangenen Jahrhundert drückten sich diese in marxistischer Rhetorik und Guerillakämpfen aus. Im Zuge des Übergangs der Diktaturen zu formal demokratischen Staaten im Laufe der Achtziger dominierten hingegen Menschenrechtsforderungen. Die soziale Frage spielte nicht nur eine untergeordnete Rolle, sie wurde bewusst unbeantwortet gelassen, um die Zustimmung der besitzenden Klassen zur Demokratisierung zu erkaufen. Alles musste bleiben, wie es war, damit es sich ändern konnte.

Doch inzwischen ist fast überall in Lateinamerika eine ganze Generation ­unter demokratischen Verhältnissen aufgewachsen, die sieht, dass die soziale Frage unbeantwortet blieb. Die Auto­kraten gingen, die Kapitalisten blieben; Wahlen fanden statt, doch die Eigentumsverhältnisse blieben unangetastet. Schon der erste Aufschwung linker ­Parteien spielte sich vor diesem Hintergrund ab. Sie wurde jedoch viel stärker noch vom Personal der demokratischen Transition oder von den hergebrachten linken Parteien getragen. So gelang es beispielsweise Lula und dem PT in Brasilien, Menschenrechte und die soziale Frage zu verknüpfen. Hinzu kam eine starke feministische und eine seit den Neunzigern erstarkte indigene Bewegung. Eine Linke, die glaubhaft verspricht, bürgerliche, soziale und kulturelle Rechte für Arme und Margina­lisierte zu fördern, kann außerordentlich stark sein.

Doch anders als vor 20 Jahren ist die Ausgangslage für soziale und ökonomische Verbesserungen wesentlich schlechter. Dass die Regierungen damals Sozialprogramme finanzieren konnten, die Millionen von Menschen aus der Armut halfen, verdankten sie hohen Rohstoffpreisen. Zwar sind die Rohstoffpreise derzeit im Steigen begriffen, doch einen regelrechten commodity boom wie damals gibt es nicht. Im Gegenteil: Wurden die Linken dereinst gewählt, weil die Deklassierten am Aufschwung beteiligt werden wollten, werden sie nun ­gewählt, weil Krisen dafür sorgen, dass die Wirtschaften der Länder kaum noch etwas abwerfen. Das hat auch mit der Covid-19-Pandemie zu tun, in deren Folge viele Staatskassen leer sind. Aber auch mit der nach wie vor hohen Rohstoffexportabhängigkeit und der möglicherweise anstehenden Zinswende in den USA und Europa, die dazu führen dürfte, dass internationales Kapital die Region verlässt. Mit dem Versuch, mehr Wohlstand zu schaffen, verschärft sich einer der größten inneren Konflikte dieser Linken: Wer vom Rohstoffexport abhängt, muss Bodenschätze erschließen, statt die Umwelt zu schützen, und mit den Großgrund­besitzern kollaborieren, statt Indigene ins Recht zu setzen. Unklar ist außerdem, wie sich der Krieg in Europa auf die wirtschaftlichen Aussichten ­Lateinamerikas auswirken wird.

Hinzu kommen Systemschwächen. Die Präsidialdemokratien Lateinamerikas sind instabil, vielerorts sind die aus dem 20. Jahrhundert überkommenen Parteien schwach geworden, die starke Personalisierung bei Wahlen verhindert die Entwicklung stabiler Par­teien, viele Präsidenten haben nicht einmal eigene Parlamentsmehrheiten. In Peru stolpert Pedro Castillo seit seinem Amtsantritt von Regierungskrise zu ­Regierungskrise, die costa-ricanische Regierungspartei PAC hat Anfang Fe­bruar den Wiedereinzug ins Parlament verpasst und die Debatten über Chiles neue Verfassung gestalten sich so langwierig und kleinteilig, dass inzwischen fraglich ist, ob es dem Verfassungskonvent gelingen wird, bis zum Ablauf der Frist einen Verfassungsvorschlag auszuarbeiten.

Doch anders, als es bürgerliche Medien mitunter vermuten lassen, sind die neuen linken Regierungen viel weniger programmatisch gefestigt als ihre Vorgänger. In Argentinien hat der Linksperonist Alberto Fernández gerade seine Koalition aufs Spiel gesetzt, weil er ein Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds geschlossen hat. Gabriel Boric gilt in Chile einigen Linken als zu reformistisch.

Mit dieser pragmatischen Flexibilität verändert sich auch das Verhältnis zu den Schmuddelkindern des eigenen Lagers. Galten Kuba, Nicaragua und Venezuela vor einigen Jahren vielen noch als Leuchttürme der Revolution, gehen die neuen linken Regierungen auf Distanz zu ihnen. Freilich liegt das auch daran, dass sich die Situation dort zugespitzt hat und nicht mehr zu leugnen ist, dass es sich bei Nicaragua und Venezuela um kleptokratische Regime handelt und auch in Kuba autoritäre Züge dominieren. Auch hier macht sich die Verschiebung von einer traditionellen Linken zu einer postmodernen bemerkbar. In einer Debatte in der parteiinternen Vorwahl hatte Boric ­seinem kommunistischen Kontrahenten Daniel Jadue vorgehalten, er werde seine Unterstützung für Venezuela genauso bereuen, wie der Schriftsteller Pablo Neruda seine »Ode an Stalin« ­bereut habe.

Es ist also fraglich, was die neuen linken Regierungen bewegen können. In Einzelfällen mögen die politischen Veränderungen von erheblichem Ausmaß sein – Korruptionsbekämpfung, gesellschaftspolitische Fortschritte, Stärkung rechtsstaatlicher Verfahren –, doch sie alle werden weiterhin auf Klassenkompromisse angewiesen sein, um Mehrheiten zu organisieren, Kapitalflucht zu vermeiden und schwere gesellschaftliche Konflikte zu verhindern. Denn wenngleich sie derzeit auf dem Rückzug ist, hat auch die Rechte neue Kraft gewonnen. Fiel es den konservativen Führungsschichten im 20. Jahrhundert schwer, mit demokratischen Mitteln die politische Macht zu bewahren – weshalb sie auf autoritäre Maßnahmen zurückgriffen –, ist es ­ihnen inzwischen weitgehend gelungen, eine Wählerschaft für ihre gesellschaftlichen Vorstellungen aufzubauen. Dabei können sie – analog zur neuen Linken – neue und alte Konflikte nutzen. Arme, aber gläubige Menschen werden gegen »Genderideologie« aufgebracht, Kleinbürger vor dem »Kommunismus« gewarnt, deklassierten Weißen wird identitäre Aufwertung durch fortgesetzten Ausschluss von Indigenen, Mestizen und Schwarzen angeboten, damit die Bourgeoisie ihr Projekt ­eines (oftmals autoritären) Neoliberalismus durchsetzen kann.

In Lateinamerika sind rechtsstaatskonforme Machtwechsel zwischen linken und rechten Parteien möglich geworden. Doch dieses Gefüge ist fragil, wie die politischen Krisen in Brasilien, Peru und Bolivien, aber auch die Revolten in Chile, die anhaltenden Kämpfe in Kolumbien und die notorisch gescheiterten Staaten in Mittelamerika zeigen. Sollten die neuen linken Regierungen nach einigen Jahren im Amt eine beträchtliche Menge Enttäuschter zurücklassen, droht ein Gegenangriff der Rechten. Der faschistische Clown Bolsonaro war darauf schlimmstenfalls nur ein Vorgeschmack.