Die westlichen Staaten ziehen militärpolitische Konsequenzen aus dem Ukraine-Krieg

Aufgeschreckte Nato

Der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hat weltweit sicherheits- und militärpolitische Diskussionen ausgelöst. Dabei geht es weniger um das konkrete Geschehen auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz als vielmehr um weltpolitische Machtfragen.

Mit Russlands Invasion der Ukraine hat auch der schwelende Konflikt zwischen Russland und der Nato ein neues Niveau erreicht. Der russische Präsident Wladimir Putin ist entschlossen, eine weitere Ausdehnung der Nato nach Osten militärisch zu unterbinden, und stellte gleichzeitig Forderungen an die Nato, ihre Truppen aus allen 14, nach 1997 beigetretenen Staaten abzuziehen, darunter Polen und Ungarn.

Selbst direkte Kämpfe zwischen Russland und einem Nato-Mitgliedstaat, einschließlich der Gefahr des Einsatzes von Nuklearwaffen, scheinen mittlerweile im Bereich des Möglichen.

Als Reaktion auf den russischen Einmarsch verlegte die Nato Truppen nach Osteuropa, konkret ins Baltikum, nach Polen und nach Rumänien. Längerfristige Konsequenzen in Form eines militärstrategischen Umdenkens werden nun von US-amerikanischen und westeuropäischen Militärexperten diskutiert. Das beinhaltet nicht nur Erhöhungen der Rüstungshaushalte in allen wichtigen Nato-Mitgliedsländern, sondern betrifft auch die Ausrichtung des Militärs, letztlich also eher die Frage, in was diese Finanzmittel investiert werden sollen.

Die sogenannte strategische Autonomie der EU könnte Kräfte freisetzen, die die USA im Konflikt mit China benötigen.

Drei Entwicklungen sind aus Sicht der westlichen Staaten langfristig zu ­bedenken: Auf weltpolitischer Ebene verschiebt der Aufstieg Chinas und dessen Konfrontation mit den USA die globalen Machtverhältnisse. Konzentrieren die USA langfristig ihre Kräfte im Pazifik, wirft das Fragen über das Verhältnis zur EU auf. In Reaktion auf die Stationierung von Raketenabwehrsystemen in osteuropäischen Nato-Ländern hatte Russland in den vergangenen Jahren versucht, sein atomares Raketenarsenal zu modernisieren. Militärisch führt Putins implizite Drohung mit dessen Einsatz dazu, dass seine Gegner neu über die nukleare Abschreckung nachdenken müssen. Darüber hinaus verändert die Digitalisierung die Kriegführung. Der Einsatz von Drohnen und anderen unbemannten Waffensystemen und die Möglichkeit der sogenannten Cyberkriegführung, also digitaler Angriffe auf die informationstechnische Infrastruktur des Gegners, findet weit unterhalb der Schwelle eines nuklearen Schlagabtauschs statt.

Die Möglichkeit eines Atomkriegs steht in den westlichen Ländern derzeit im Mittelpunkt der Diskussionen. Dabei wird vor allem auf die aus dem Kalten Krieg bekannte Doktrin der Abschreckung zurückgegriffen, der zufolge ein realistisches Szenario der vollständigen Zerstörung aufrechtzuerhalten ist, das den Gegner vom Einsatz dieser Waffen abhalten soll. In diversen Veröffentlichungen diskutierten Politiker, Armeeangehörige und Sicherheitsexpertinnen in den vergangenen zwei Wochen darüber, wie eine modernisierte Politik der Abschreckung aussehen könne. Das dürfte eine wichtige Rolle auf dem Nato-Gipfel im Juni in Madrid spielen. Turnusgemäß soll auf diesem das Strategische Konzept der Nato erneuert werden, dies war zuletzt 2010 in Lissabon geschehen. Das Strategische Konzept ist das zentrale Dokument des Bündnisses und legt dessen strategische politische und militärische Leitlinien dar.

Ein Thema des Gipfels dürfte auch die sogenannte strategische Autonomie der EU sein, womit gemeint ist, dass die EU-Staaten eigenständige militärische Kapazitäten aufbauen sollen. Vor allem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte das in den vergangenen Jahren wiederholt gefordert, auch in Reaktion auf Äußerungen Donald Trumps, der in seiner Amtszeit als US-Präsident Schutzgarantien der USA für die Nato-Staaten in Frage zu stellen schien. Macron tat das nicht uneigennützig; die strategische Autonomie der EU würde die Stellung Frankreichs in dem Staatenverbund stark aufwerten, ist doch nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs Frankreich mit seiner Atomstreitmacht, der force de frappe, die einzige Nuklearmacht in der EU.

Unter anderem deswegen ist die Idee unter den EU-Mitgliedstaaten nicht unumstritten. Auch die Haltung der USA dazu ist zwiespältig. Einerseits würde eine strategische Autonomie der EU helfen, Kräfte freizusetzen, die die USA im Konflikt mit China benötigen. Andererseits könnte eine stärkere gemeinsame Aufrüstung der EU den Zugang von US-Unternehmen zum EU-Rüstungsmarkt erschweren. Auch bestünde im Konfliktfall die Gefahr des Ausschlusses der USA von der Nutzung ihrer strategisch wichtigen Basen in Europa. Der Krieg in der Ukraine erhöht sowohl in der EU als auch in den USA die Zustimmung zur Idee des Aufbaus eigener, auch nuklearer, militärischer Kapazitäten der EU. So forderte erst kürzlich die Nato-Expertin Stefanie Babst im Interview mit dem Berliner Inforadio eine Debatte dar­über ein, »ob wir in Europa eine eigene atomare Abschreckungsfähigkeit entwickeln können.« Über die Kontrolle und Ausgestaltung europäischer militärischer Strukturen herrscht allerdings keine Einigkeit. Denn die alten Konflikte unter den westlichen Ländern schwelen auch angesichts der russischen Aggression weiter. Vor diesem Hintergrund ist auch das Agieren Großbritanniens zu sehen. Kürzlich noch plante die Regierung Boris Johnsons unter dem Schlagwort »Global Britain« die sicherheitspolitische Abwendung von Kontinentaleuropa und die Hinwendung zum pazifischen Raum in Allianz mit den USA, asiatischen Staaten und Australien. Seit Anfang des Jahres ist das Land allerdings im Bündnis mit Polen und den baltischen Staaten der stärkste westeuropäische militärische Unterstützer der Ukraine. Im Februar versuchte Johnson sogar, mit Polen und der Ukraine ein ­eigenständiges Militärbündnis zu gründen. Der britische Anspruch, auch in Europa weiterhin sicherheitspolitisch präsent zu bleiben, richtet sich nicht nur gegen Russland, sondern stützt auch die osteuropäischen Nato-Partner als Gegengewicht gegen eine deutsche Dominanz in Europa. Dieser misstraut beispielsweise Polen zutiefst.

Das brachte der polnische Soziologe Sławomir Sierakowski kürzlich in ­einem von dem Think Tank Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) veröffentlichten Beitrag zum Ausdruck. Er begrüßte darin die Bereitschaft Deutschlands, seine Verteidigungsausgaben zu erhöhen, wies aber darauf hin, dass dies aus polnischer Sicht gemischte Gefühle erregt: »In Deutschland müssen nicht immer vernünftige und moderate Politiker regieren.« Deswegen müssten jetzt »Nato-Basen mit amerikanischen Soldaten« in Polen errichtet werden, und vor allem sei die europäische Integration zu verstärken, so dass Deutschland und Polen in einem »Netzwerk gegenseitiger Abhängigkeit« miteinander verbunden sind und »sich nie gegeneinander wenden können.«