Putin bricht die Regeln der nuklearen Abschreckung aus dem Kalten Krieg

Gefährliche Doktrin

Die russische Nuklearstrategie folgt nicht den Regeln der Abschreckung im Kalten Krieg. Das erhöht die Gefahr einer Eskalation.
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Kann der russische Präsident Wladimir Putin im Alleingang einen nuklearen Erstschlag anordnen? »Die ehrliche Antwort ist: ›Wir wissen es nicht‹«, twitterte Pavel Podvig vom United Nations Institute for Disarmament Research Anfang März. »Eine kurze Antwort ist: ›Wahrscheinlich‹. Eine längere Antwort ist: ›Es ist kompliziert.‹«

Die Einschätzungen von Experten orientieren sich noch immer an den Erkenntnissen über die sowjetische Kommandostruktur, die seit Stalins Tod darauf ausgerichtet war, Alleingänge zu verhindern. Grundsätzlich bestehe diese Kommandostruktur noch, so Podvig, daher gebe es Einflussmöglichkeiten, doch habe wohl niemand eine Vetomacht gegen die Entscheidung des Präsidenten.

Bislang waren die russischen Drohungen sorgfältig inszenierte Propaganda. Am 5. März sagte Putin, die westlichen Sanktionen seien »einer Kriegshandlung ähnlich«. Zwei Tage später mahnte Marija Sacharowa, die Sprecherin des Außenministeriums, Waffenlieferungen an die Ukraine würden eine »katastrophale Entwicklung der ­Situation nicht nur in der Ukraine, sondern auch in den Nato-Ländern provozieren«, am 13. März griff Russland eine nur 20 Kilometer von der polnischen Grenze entfernte ukrainische Militäreinrichtung an. Die Angst vor dem Atomkrieg soll die westlichen Staaten von Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine abbringen.

Konkrete Vorbereitungen sind den Drohungen und der von Putin angeordneten »erhöhten Kampfbereitschaft« der Atomstreitkräfte bislang nicht gefolgt, andernfalls hätten die USA, dem Automatismus des Kalten Kriegs folgend, Gegenmaßnahmen ergriffen. Doch Putins Rhetorik ist ein Bruch mit den damals gültigen rules of engagement, kein KPdSU-Generalsekretär und kein US-Präsident hat jemals so leichtfertig mit Atomwaffen gedroht. Die Nato hält sich akribisch an die alten rules of engagement und agiert wie in den damaligen sogenannten Stellvertreterkriegen: Man versorgt die Ukraine mit Waffen, bleibt aber unterhalb der Schwelle einer Teilnahme von Nato-Soldaten an Kampfhandlungen.

Diese Vorsicht trug der Nato viel Kritik ein, doch es wäre riskant, Putins Drohungen als Bluff abzutun. Russland hat sich auch in der Militärdoktrin von den rules of engagement des Kalten Kriegs verabschiedet. Diese gestatten den nuklearen Erstschlag, wenn, so die gleichlautenden Formulierungen aus den Jahren 2010, 2014 und 2020, eine existentielle Bedrohung des Staats vorliegt. Konkrete Einsatzszenarien sind geheim, doch gibt es Indizien dafür, dass die existentielle Bedrohung sehr großzügig ausgelegt wird. So sagte Nikolaj Patruschew, seit 2008 Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats, ein Jahr nach seiner Amtsübernahme: »Wir haben die Bedingungen für den Gebrauch nuklearer Waffen zur Abwehr einer Aggression mit konventionellen Kräften korrigiert, nicht nur in großflächigen, sondern auch regionalen oder sogar lokalen Kriegen.« Möglich sei auch ein »Präventivschlag« gegen einen »potentiellen Aggressor«.

In der US-Militärforschung wird diese Strategie als escalate to ­de-escalate bezeichnet – der einschüchternde Nuklearschlag soll den Feind zum Rückzug oder zur Kapitulation zwingen. Für einen Atomwaffeneinsatz unterhalb der Schwelle des interkontinentalen Kriegs ist Russland wesentlich besser gerüstet als die USA. Diese verfügen über 230, Russland über 1 000 bis 2 000 »nichtstrategische« Atomsprengköpfe, also solche mit kleinerer Sprengkraft.

Bislang gibt es keine Anzeichen dafür, dass die russischen Invasionstruppen in der Ukraine mit solchen Waffen, deren Einsatz einer längeren Vorbereitung bedarf, ausgerüstet sind. Jenseits von Spekulationen über Putins Geisteszustand ist die Eskalationsgefahr jedoch offensichtlich. Es gibt hinreichende Indizien dafür, dass die russische Militärdoktrin auf Vorstellungen beruht, die einen Atomschlag gegen den ukrainischen Widerstand oder sogar gegen einen Nato-Staat, der diesen mit Waffen versorgt, als Einschüchterungsmaßnahme sinnvoll erscheinen lassen können.