Homestory

Homestory #11

Kleidermotten haben die Redaktion übernommen. Schon seit längerem hat man sie gelegentlich im Büro herumschwirren sehen. Die an der Wand installierte Mottenfalle wirkt nicht mehr, nun machen sie sich immer schamloser breit und scheinen den ganzen Laden übernehmen zu wollen (billige Vergleiche zum Zeitgeschehen sollen an dieser Stelle unterlassen werden). In unserem vorherigen Büro in der Bergmannstraße soll es nie Motten gegeben haben, erzählt eine Jungle World-Mitarbeiterin, die schon damals dabei war – vielleicht hätten sie den Zigarettenrauch dort einfach nicht überlebt. Über die möglichen Gründe für die derzeitige Mottenplage herrscht Uneinigkeit, am Rauchverbot soll aber vorläufig nicht gerüttelt werden. Möglicherweise haben sich die Motten in der langen Homeoffice-Zeit einfach zu ungestört gefühlt und denken nun, ihnen gehörten die Büroräume. Vielleicht ist es auch einfach mal wieder Zeit, dass richtig aufgeräumt wird. Früher gab es gelegentliche Subotniks in der Redaktion: kollektive Putzeinsätze, bei denen alle zusammen die Büroräume auf Vordermann gebracht haben. Ein Blick in die Homestory-Archive beweist, dass es einen solchen spätestens 2017 noch gegeben hat. Ein Blick in so manche Büroräume, in denen seit Beginn der Pandemie kaum jemand gearbeitet hat, zeigt: Es wäre an der Zeit.

Wer am Sonntag in Berlin ist und noch nichts vorhat, kann in der Volksbühne vorbeischauen. Um 18 Uhr gibt es dort im Roten Salon eine Diskussionsveranstaltung über »Freiheit & Würde: Solidarität mit der Ukraine! Perspektivwechsel: Die westliche Linke dekolonialisieren?«, bei der die Jungle World als Medienpartner mitmacht. Was das Modewort »dekolonialisieren« dort zu suchen hat, erschließt sich uns aber nicht so recht – wie wäre es mit »entprovinzialisieren«? Das würde vielen in Deutschland vielleicht guttun: einen Schritt aus dem engen deutschen Krähwinkel heraus, um wahrzunehmen, was ukrainische Linke zum Beispiel über den russischen Imperialismus zu erzählen haben. Auch wir hatten die Gefahr und das Ausmaß einer russischen Invasion unterschätzt. Vor einigen Wochen hatten wir noch überlegt, unsere Auslandsausgabe diesen Sommer im geistig eher westlich gelegenen Kiew zu produzieren. Allerdings hat der russische Angriffskrieg der Jungle World auch keinen Anlass zu kleinlauter Ratlosigkeit gegeben, wie es bei vielen friedensbewegten Linken der Fall war – auf den Thema-Seiten dieser Ausgabe wird deren Dilemma analysiert. Man soll sich ja nicht selbst loben, aber dass wir schon früher Wladimir Putin als das angesehen haben, was er ist, gehört wohl zu den Vorzügen dieser Zeitung.