Linke Äquidistanz zwischen West und Ost

Theoretisch links

Linke Putin-Apologeten erliegen dem Fehlschluss, dass ein gemeinsamer Feind gleich einen Freund ausmache. Universalistische Werte wie Pressefreiheit und Gewaltenteilung sind jedoch weder »hohl« noch eine »postkoloniale Anmaßung«, selbst wenn sie von westlichen Politikern als Worthülsen missbraucht werden.
Disko Von

Sie war schon beeindruckend, die argumentative Vehemenz, mit der große Teile der deutschen Linken den Monate währenden Aufmarsch von Wladimir Putins Invasionsarmee an der Grenze zur Ukraine als bloßes Gesprächsan­gebot verteidigten. Die Vernünftigeren, wie Susanne Hennig-Wellsow, Vor­sitzende der Linkspartei, zeigen sich inzwischen zerknirscht ob ihrer »Illusionen, die zu verheerenden Fehleinschätzungen auch linker Politik führten«. Andere aber haben ihre Lieblingserzählung einer Nato-Aggression längst wiederaufgenommen, empören sich nun über den »Wirtschaftskrieg« gegen Russland oder versuchen, die Verantwortung für die Kriegstoten den Ukrainern zuzuschieben. Diese müssten sich doch nur von Putin ins russische Reich heimholen lassen und alles wäre wieder gut.

Jörn Schulz nennt diese Unbelehrbaren »putinistische Linke« – eine paradoxe wie ungeheuerliche Bezeichnung. Kann es tatsächlich Linke geben, deren Weltbild auf Kadavergehorsam gegenüber einem völkisch-imperialistischen Autokraten basiert? Für die Putins archaischer Chauvinismus inklusive Unterdrückung von Homo- und Transsexuellen sowie Morden an Journalisten und Oppositionellen nur einen Nebenwiderspruch darstellt? Die seine Unterstützung rechtsextremer Parteien und Bewegungen in den USA und Europa für eine clevere Strategie halten, um den Kapitalismus zu Fall zu bringen? Gäbe es derlei »putinistische Linke«, so wäre es interessant zu erfahren, ob der Geheimplan zur Errichtung des Weltkommunismus, den sie hinter all dem zu erkennen glauben, ohne Querverweise auf Echsenmenschen, kinderblutsaufende US-Politiker und Zweifel an der Erdkrümmung auskommt.

Das hergebrachte ant­i­imperia­listische Lagerdenken westlicher Theorielinker scheint jedes Scheitern am Realitätscheck zu überdauern.

Sicher, gerade in der sogenannten Linkspartei gibt es – auch über die allgegenwärtige Sahra Wagenknecht hinaus – weiterhin zahlreiche Putin-Apologeten. Aber da auch deren sonstige ­Positionen, von Impfgegnerschaft über nationalistisch-kulturalistische Globalisierungsfeindlichkeit und offene Verachtung für queere Lebensentwürfe bis hin zu Forderungen nach einer (noch) restriktiveren Flüchtlingspolitik schwerlich mit dem Begriff »links« zu assoziieren sind, sind sie eher als ­irrlichternde Rechte zu begreifen.

Zweifellos links ist hingegen das Magazin Konkret, das sich zu Kriegsbeginn einen grandiosen Lapsus leistete. Kurz bevor Putins Invasionsarmee westwärts in die Ukraine vorstieß, titelte das Blatt: »Go East! Die Nato-Aggres­sion gegen Russland«. In einer Stellungnahme der Redaktion auf ihrer Internetseite hieß es dazu nach Erscheinen der Zeitschrift wenig selbstkritisch, die Titelgeschichte von Autor Jörg Kronauer verlöre auch »in Anbetracht der ak­tuellen Entwicklungen nicht an Gehalt und Wahrheit«. Ansonsten hege man weder »Verständnis für Moskaus machtpolitische Ambitionen, noch ist von dieser Zeitschrift ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Weltordnung des Westens zu erwarten«. Äquidistanz also, zu Putin einerseits und »dem Westen« andererseits? Nicht in dieser Ausgabe.

Von der Auftaktrubrik »Von Konkret« bis hin zum Gedicht im Kulturteil wird nicht Putin, sondern die Nato für die Gefahr eines Kriegs ­verantwortlich gemacht. Kronauer indes legt noch einen drauf, wenn er sogar die Ukraine selbst zum Kriegstreiber erklärt. Diese bereite nämlich »die (Rück-)Eroberung von Donezk und Luhansk vor«. Ganz wichtig ist dem Autor die mündliche Zusage Deutschlands und der USA an die heutzutage nicht mehr existente ­Sowjetunion 1990, dass es keine Nato-Osterwei­terung geben werde. Das 1994 unterzeichnete Budapester Memorandum, in welchem Russland der Ukraine für die Abtretung ihrer Atomwaffen volle Souveränität und die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen zusichert, findet er hingegen nicht erwähnenswert.

Insgesamt scheint die Argumentation geleitet von einem in der hiesigen Linken weitverbreiteten Fehlschluss: dem aus berechtigter Verachtung für die deutsche Außenpolitik und deren stets von »westlichen Werten« fabulierende Vertreter erwachsenen Trugbild, dass der Feind dieses Feindes als potentieller Freund zu betrachten sei. Die Abgrenzung von der im Statement der Konkret-Redaktion gleich zur »Weltordnung« erho­benen »freiheitlichen demokratischen Grundordnung« Deutschlands klingt in diesem Kontext zwar markig, hinterlässt aber die Frage, welcher Teil der 1952 vom Bundesverfassungsgericht definierten Grundwerte so rigoros abgelehnt wird. Das »Recht auf Leben und freie Entfaltung« vielleicht? Die »Un­abhängigkeit der Gerichte«? Oder das »Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition«? Klar, wer das alles nicht braucht, dem gefällt es womöglich ganz gut in Putins Russland. Nur ist die Passage so sicher nicht gemeint.

Eher will man wohl auf die Binsenweisheit hinaus, dass »der Westen« nicht jene moralische Instanz darstellt, als die er sich der Welt gerne präsentiert. Ja, das ist so. Die universalistischen Werte, die gemeinhin mit ihm asso­ziiert werden, verlieren dadurch aber nicht an Relevanz. Mögen sie noch so oft vom westlichen Politikpersonal als reine Worthülsen missbraucht werden – tatsächlich »hohl«, wie Tomasz Konicz an dieser Stelle schrieb, sind sie deswegen noch lange nicht. Sie sind vielmehr alles, was zwischen uns und der Barbarei steht. Ernst Lohoff hat recht, wenn er schreibt: »Der Abschied vom ­liberal-demokratischen Sendungsbewusstsein macht die Welt keineswegs zu einem besseren, sondern zu einem noch gruseligeren Ort.« Denn wer im Beharren auf einer global verbindlichen Werteordnung, mag sie noch so wackelig sein, »postkoloniale Anmaßung« sieht, wie Felix Bartels kürzlich in der despotischen Regimen stets herzlich zugeneigten Jungen Welt, müsste konsequenterweise auch das Recht der Taliban auf Steinigung von »Ehebrecherinnen« verteidigen. Bartels Weisung, Linke hätten vordringlich »vor der eigenen Tür zu kehren«, mag vielleicht schwä­bischen Altgenossen als artgerechte Haltung erscheinen, ist aber sicher nicht geeignet, im global vernetzten Weltgeschehen der Barbarei entgegenzu­wirken – gerade weil autoritäre Ideen längst auch in Demokratien reüssieren, wie Peter Korig an dieser Stelle ausführte. Bartels Kehrwochenideologie jedoch will selbst Barbarisierungstendenzen im Westen ausgeblendet wissen, wenn er in seinem Essay nicht nur Putin, sondern auch Donald Trump mit Max Webers letztlich legitimierendem Begriff der »charismatischen Herrschaft« belegt.

Als im verhassten Westen recht kommod aufgehobener (post-)marxistischer Apokalyptiker, der bei einem guten Rotwein die finale Krise des Kapi­talismus erwartet, versteht man die drohende Barbarei wohl als nötige Phase auf dem Weg zu einer freien Gesellschaft. Ihre Opfer indes werden das zweifellos anders sehen. Und ob eine linke Perspektive ohne Rücksicht auf jetzt lebende Menschen überhaupt möglich ist, darf bezweifelt werden. Zur Analyse aktueller Krisen taugt sie jedenfalls nicht. Das haben die eklatanten Fehlprognosen all jener gezeigt, die ­Putins vielfach bekundeten völkischen Imperialismus für bloßes Gedöns ­hielten und sich in ihrer Fixierung auf Machtblöcke keinen Deut dafür interessierten, was die Menschen in der Ukraine umtreibt. Man hätte durchaus wissen können – im Selbstverständnis eines »Experten« sogar wissen müssen –, dass Putins Pläne nicht von jener kühlen Ra­tionalität gezeichnet waren, die man anhand geostra­tegischer Vor- und Nachteile entschlüsseln kann. Und hätte man sich vorab mal mit der Ukraine befasst, wenigstens ein paar ukrainische Autoren gelesen, Jurij Andruchowytsch etwa, Yevgenia Belorusets oder Serhij Zhadan, man wäre kaum der ignoranten Illusion erlegen, das Land als bloße Verhandlungsmasse betrachten zu können. Die Ukraine ist nicht die von nazistischen Nato-Freischärlern kontrollierte postsowjetische terra incognita, als die sie viele hiesige Linke seit den Tagen des Euromaidan ansehen. Sie ist ein Land voller Brüche und Widersprüche, dessen Gesellschaft jedoch seit der sogenannten Orangenen Revolution 2004 in stetig wachsender Mehrheit »west­lichen Werten« zustrebt. Wer diese Entwicklung in den vergangenen Jahren verfolgt hat, weiß, dass es keine »Nato-Aggression« war, die Putins Einmarsch provozierte, sondern die Erkenntnis, dieses von ihm als Teil des historischen russischen Imperiums beanspruchte Land auch ohne Nato- oder EU-Mitgliedschaft Tag für Tag weiter an »den Westen« zu verlieren.

Doch das andauernde antiimperialistische Lagerdenken westlicher Theorielinker scheint jedes Scheitern am Realitätscheck zu überdauern, um in alle Ewigkeit empathielose Äquidistanz zwischen der Befindlichkeit mörde­rischer Despoten und zu Freiheit und Selbstbestimmung strebenden Menschen anzumahnen, sofern Letztere nicht gefälligst die alte rote Fahne schwenken. Was da derzeit als Putinismus erscheint, ist daher in Wahrheit nur eine wechselnde Camouflage für linksreaktionären Zynismus.