Werftarbeiter streiken in der Türkei für bessere Arbeitsbedingungen

Tödliches Recycling

Nachdem im Februar zwei Werftarbeiter im türkischen Aliağa verunglückt waren, traten ihre Kollegen in den Streik. Die Arbeits­bedin­gungen in der türkischen Abwrackindustrie sind gesundheits- und lebensgefährdend.

Als der Werftarbeiter Kazim Han am 3. Februar ein Stück Metall aus dem Schiffsrumpf eines Frachters schnitt, donnerte die schwere Platte plötzlich nieder. Han entging haarscharf dem Tod, zog sich aber Brüche im Brustkorb zu. »Eine Schicht bei der Werft Demtaş dauert durchschnittlich acht Stunden«, sagt Yavuz Öcal* vom Solidarnetzwerk für die Abwrackwerftarbeiter in Aliağa in der Westtürkei der Jungle World, »doch wie so oft hatte er fast zehn gearbeitet.« Öcal selbst ist in der ölverarbeitenden Industrie beschäftigt und bei der Gewerkschaft Petrol-IŞ organisiert. Der Unfall auf der Demtaş-Werft und ein weiterer am darauffolgenden Tag, bei dem ein Arbeiter bei der Schiffswerft Blade von der Krantreppe eines zu ­verschrottenden Schiffs fiel und sich schwer verletzte, hätten das Fass zum Überlaufen gebracht, erzählt er. »Beide waren übermüdet, gleichzeitig gibt es keinerlei Sicherheitsvorkehrungen auf diesen Schiffen.« Eine Woche später legten fast alle 1 500 Arbeiter der 22 Werften in Aliağa die Arbeit nieder.

Die Abwrackwerften befinden sich nordwestlich des Ölhafens der Stadt Ali­ağa in der Bucht von Çandarlı an der Ägäisküste, 30 Kilometer von der Großstadt İzmir entfernt. Die türkischen Stahlwerke in der Region beziehen hier ihre Rohstoffe. Die Türkei zählt zu den Hauptabnehmern von ausgesonderten Bohrplattformen und Frachtschiffen vor allem aus Europa und den USA. Die türkischen Werften gehörten zu den Gewinnern der Covid-19-Pandemie, denn diese traf auch die Kreuzfahrtbranche, so dass viele ältere Schiffe in den vergangenen zwei Jahren aus dem Verkehr gezogen wurden. Das Schiffsrecy­cling in der Türkei wird in einer Industriegebiet durchgeführt, das in Staatsbesitz ist und an private Unternehmen vermietet wird.

»Die Arbeitsbedingungen in der Tür­kei sind zwar besser als in Asien, aber immer noch inakzeptabel.« Ingvild Jenssen, Gründerin und Direktorin der Shipbreaking Platform

»Die Arbeitsbedingungen dort sind zwar besser als in Asien, aber immer noch inakzeptabel«, betont Ingvild Jenssen, Gründerin und Direktorin der Shipbreaking Platform. Die NGO ist ein Zusammenschluss von Organisationen, die sich dem Umweltschutz, den Menschenrechen und den Arbeitsrechten verschrieben haben, und will verhindern, dass Schiffe unter menschen­unwürdigen Bedingungen in Entwicklungsländern entsorgt werden. Die Türkei ist kein Entwicklungsland, acht Werften sind sogar von der EU zertifiziert. Dieses Zertifikat soll garantieren, dass die Umweltauflagen EU-Anforderungen genügen und die Arbeitsbedingungen dem Landesarbeitsrecht entsprechen. Für die Shipbreaking Platform gehört die Türkei dennoch zu den Problemzonen der Schiffsabwrackindustrie. Fünf Arbeiter seien im vergangenen Jahr bei Unfällen gestorben, zwei davon auf den zertifizierten Werften in Aliağa, vermeldet die NGO. Am 12. Juli waren Yılmaz Demir und Oğuz Taşkın an Bord des Kreuzfahrtschiffs »Carnival« Inspiration, als sie plötzlich von Flammen erfasst wurden. Yılmaz starb auf der Stelle, Oğuz erlag drei Tage ­später im nahegelegenen Krankenhaus seinen schweren Verbrennungen. Das Feuer soll im Maschinenraum ausgebrochen sein, sagt Öcal, aber die genauen Umstände würden nicht aufgeklärt. Er vermutet, damit die Familien der Ver­unglückten keine Forderungen stellen können. »Sie bekommen eine Abfindung, davon können sie sich eine Wohnung kaufen, aber das steht in ­keinem Verhältnis zu dem Tod eines Menschen.«

Aslı Odman ist Dozentin am Fachbereich Stadtplanung der Mimar Sinan Fine Arts University in Istanbul; sie unterstützt die Bewegung Health and Safety Labor Watch (HSLW) sowie die Solidaritätsgruppe für Familien von Arbeitern, die für die Anerkennung von Arbeitsunfällen streiten (SGWFSJ). »Jeden Tag werden zwischen 20 und 30 Menschen an türkischen Arbeitsplätzen getötet«, sagt sie, »aber nur ein kleiner Teil dieser Todesfälle wird offiziell als arbeitsbedingt anerkannt.« In Aliağa arbeiten die Werftarbeiter ohne nennenswerte Schutzkleidung mit Asbest und anderen toxischen Stoffen. »In den vergangenen Jahren erkrankten viele Arbeiter dort an Krebs, aber natürlich kann man das nicht zuordnen.«

Die Zahlen, die von staatlicher Seite zu arbeitsbedingten Erkrankungen genannt werden, weichen stark von denen ab, die wissenschaftliche Studien zu entnehmen sind. Einer Veröffent­lichung des medizinischen Fachblatts der Hacettepe-Universität in Ankara von 2019 zufolge waren 2018 bis zu 321 868 Arbeiter von Muskel-Skelett-Erkrankungen betroffen, bis zu 95 845 von Kreislauf- und Herzerkrankungen, 38 994 bis 56 992 von chronischen Lungenerkrankungen, bis zu 19 858 leiden an Asthmafällen, bis zu 29 550 an Gehörverlusten; bis zu 16 341 Krebsfälle sind arbeitsbedingt. Nach Angaben des Statistikinstituts der Türkei, dessen Zahlen auf Daten der staatlichen türkischen Versicherungsanstalt beruhen, liegen die arbeitsbedingten Erkrankungen des Kreislaufsystems jedoch nur bei ­schätzungsweise 8 143 Fällen. Außerdem wurden 1 913 bösartige Tumore und 2 130 Fälle von Erkrankungen der Atemwege festgehalten. Öcal weiß darüber hinaus aus seiner Arbeitspraxis zu berichten, dass die gewerkschaftlich nicht organisierten Arbeiter oft nicht sozialversichert sind und somit nicht in der Statistik auftauchen.

Bei ihrem Streik forderten die Werftarbeiter der 22 Werften in Aliağa Lohnerhöhungen und Arbeitsschutzmaßnahmen. Sie bekommen durchschnittlich etwas mehr als den türkischen Mindestlohn von derzeit 283 Euro im Monat, einige 290, andere 320 Euro je nach Berufsbild. Die Streikenden beklagten, dass ihre jüngste Gehaltserhöhung unter der jährlichen Inflations­rate geblieben sei. Der türkischen Zen­tralbank nach liegt diese für 2022 voraussichtlich bei 54 Prozent, im vergangenen Jahr waren es 15 Prozent. Die Arbeiter forderten eine Lohnerhöhung zwischen 21 und 32 Euro für die verschiedenen Arbeitsbereiche auf der Werft, eine Anerkennung als Beschäftigte im Schwerindustriesektor, Arbeitsverträge, Schutzkleidung, eine halbjährlichen Turnus der Lohnerhöhung, um die Inflation auszugleichen, die Abschaffung der Lohnaussetzung bei ­Arbeitsausfall durch schlechtes Wetter und Gehaltszahlungen per Banküberweisung. All das sind Bedingungen, die das türkische Arbeitsrecht eigentlich vorschreibt. »Momentan bekommen die Arbeiter dort noch Lohntüten«, sagt Öcal. »Banküberweisungen schaffen eine offizielle Grundlage, die die Arbeitgeber und auch die Rentenkasse nicht wollen. Denn dann hätten die Arbeiter ja eine Grundlage für Forderungen.«

Öcal versuchte mit anderen Gewerkschaftsvertretern, den Streik der Werftarbeiter in Aliağa zu unterstützen. Dort führt gewerkschaftliche Organisation oft sofort zu Entlassungen. In einer Erklärung auf ihrer Internetseite kritisiert die Organisation Greenpeace, die Profite der internationalen Schifffahrtsindustrie gingen zulasten der Umwelt und der Gesundheit der Arbeiter. Das Leergewicht eines Schrottschiffs beträgt der Umweltorganisation zufolge je nach Größe und Funktion 5 000 bis 40 000 Tonnen. Die Schiffe bestehen im Durchschnitt zu 95 Prozent aus Stahl. Dieser ist mit zehn bis 100 Tonnen Anstrichstoffen beschichtet, die Blei, Kadmium, Organozinn (TBT), Arsen, Zink und Chrom enthalten können. Außerdem enthalten Schiffbaustoffe weiteren giftigen Sondermüll wie PCB-haltige Dichtungsmassen und verschiedene Asbestsorten in reiner oder verarbeiteter Form.

Das internationale Recyclinggeschäft mit Kreuzfahrtschiffen funktioniert als eine Kette von Abmachungen zwischen den Gesellschaften, die die Linien betreiben, Zwischenhändlern und den Abwrackwerften. Das ehemalige Kreuzfahrtschiff »Carnival Inspiration« etwa wurde 2020 von der EU-zertifizierten Abwrackwerft Ege Çelik erworben. Das Abwracken, bei dem zwei Arbeiter ums Leben kamen, erledigte allerdings ein angeschlossenes Subunternehmen: die nicht EU-zertifizierte Metas-Werft. Während die Betreiber sich der Kosten für die Entsorgung entledigen, profi­tieren die Abwracker von steigenden Stahlpreisen. 1998 wurden in Asien 90 bis 120 US-Dollar für eine Tonne Stahl gezahlt, 2005 teils schon über 400 Dollar. Der Stahlpreis lag 2021 der Agentur Fastmarkets zufolge in Europa bei 820 bis 840 Euro je Tonne. Auf dem US-Stahlmarkt kostet eine Tonne Stahl 1 802 Euro, so die Marktanalyseplattform Metal Miner. Um solche Preise zu erzielen, müssen die Schiffe allerdings zerlegt und der Stahl von den übrigen Stoffen gereinigt werden. Die katastrophalen Arbeitsbedingungen und umweltschädlichen Recyclingprozesse im Abwracksektor sollen eigentlich durch die Hongkong-Konvention reguliert werden. Dieses wurde 2009 von der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation IMO verabschiedet, ist aber bisher noch nicht in Kraft getreten, da dem Abkommen noch nicht genügend Mitgliedstaaten beigetreten sind.

Ende Februar wurde der Streik auf den Werften in Aliağa abgebrochen; verbesserte Arbeitsbedingungen habe er nicht bewirkt, betont Öcal desillusioniert. »Die Arbeiter sind jetzt froh, dass niemand entlassen wurde. Sie begreifen nicht, dass sie als Facharbeiter dort unerlässlich sind.« Gegen die internationale Abwrackindustrie, mit ihrer Einbettung in globale Wirtschaftsketten, haben lokale, prekarisierte Belegschaften wie in Aliağa einen schweren Stand. Menschenwürdige Arbeitsbedingungen in der Branche sollten durch festgesetzte internationale Mindestanforderungen gesichert werden.

* Name von der Redaktion geändert.