Ein Gespräch mit Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber vom Filmfestival Diagonale

»Der österreichische Film ist nun mal keine Straight-Edge-Kultur«

Das österreichische Filmfestival Diagonale steht dieses Jahr im Zeichen des Rauschs – im Sinne der Bilder sowie ganz buchstäblich. Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber, die Intendanten des Festivals, sprechen im Interview mit der »Jungle World« darüber, was die österreichische und deutsche Filmförderung unterscheidet, und über die Affinität der Österreicher zum berauschten Zustand.
Interview Von

Wenn man sich in der deutschen Filmbranche zur Diagonale umhört, wird einem üblicherweise geantwortet, der Besuch des Festivals sei ein »Ritual«, bei dem es »junges, subversives Kino« zu entdecken gebe.

Sebastian Höglinger: Wir operieren gewissermaßen aus einer schier unmöglichen Position. Niemand würde ein Musikfestival organisieren, auf dem Neue Musik, Free Jazz und HipHop laufen müssen. Bei der Diagonale soll aber gerade alles, von experimentellen Miniaturen bis hin zu Publikumslieblingen, abgebildet werden. Wir haben das Glück, dass im österreichischen Kino solche Experimente möglicherweise in größerer Quantität vorkommen als in anderen Ländern. Bei den historischen Specials ist es uns wichtig zu zeigen, was man außerhalb der Archive in Wien nur noch selten zu sehen bekommt.

»Kino ist ein Ort, um auf andere Gedanken zu kommen. Das kann Zerstreuung bedeuten, aber auch Erkenntnis.« Sebastian Höglinger

Peter Schernhuber: Die Diagonale fand 1998 zum ersten Mal in Graz aus dem Impetus statt, unabhängigem Kino einen Raum zu geben. Dass in Graz Essay-, Experimental- und gewagte Dokumentarfilme neben den großen Spielfilmproduktionen laufen, ist eine Konstante des Festivals. Alter oder Jugend sind für uns keine Qualitätsmerkmale. Aber Neues und Renommiertes nebeneinander zu zeigen, ist uns ein Grundbekenntnis und die Voraussetzung dafür, die Diagonale denken zu können, wie wir es tun.

Im vergangenen Jahr hat die ­Diagonale als erstes deutschsprachiges Festival wieder in Präsenz stattgefunden. Wie wollen Sie dem Kino wieder seine zentrale Bedeutung für die Öffentlichkeit geben, die es heutzutage zu verlieren droht?

P. S.: Der österreichische Film hat es im regulären Betrieb wahnsinnig schwer. Aber die Diagonale hat sich immer als Kinofestival verstanden und bekennt sich zur Kulturtechnik Kino und zum Gang in den Kinosaal. Die Pandemie hat uns hart getroffen, aber wenn man an die junge Generation von Kinogängern denkt, denen nun aufgrund der Pandemie etwa zwei Jahre »fehlen«, ist uns das ein Ansporn, gerade sie noch einmal neu und anders zu adressieren.

S. H.: Die Rahmenbedingungen sind in Graz dafür recht optimal. Die ­Kinos sind Innenstadtkinos, alle fußläufig erreichbar. So trifft man sich ganz selbstverständlich in den Straßen zum Gespräch. Weil die Kinos alle nicht gigantisch groß sind, finden die Diskussionen zwischen Filmemachern und Publikum auf eine viel intimere Weise statt. Wir sind gleichermaßen ein Branchen- und ein Publikumsfestival, das aber keinen Markt hat. Das Resultat ist, dass alle anders agieren als auf einem Festival, wo sie letztlich verkaufen müssen.

Filmstill aus »Contact High«

Regisseur Michael Glawogger hat gleich mehrere Filme zum Rausch gemacht, hier ein Still aus »Contact High« (2009)

Bild:
Sammlung Österreichisches Filmmuseum

In Deutschland wie Österreich gibt es staatliche Filmförderung, die zumindest in Deutschland erfolgreich jede Spontanität und Transgression im Kino abgetötet hat. Was in Hollywood »development hell« genannt wird, also dass ein Stoff über fünf Jahre lang herumliegt, bevor man ihn verfilmt, gehört in Deutschland durch die Prozeduren des Förderapparats zur Normalität. Was läuft in Österreich eventuell anders?

P. S.: Es gibt natürlich auch in Österreich eine Til-Schweiger-Sehnsucht. Und es gibt tolle Regisseurinnen wie Jessica Hausner, Barbara Albert und Marie Kreutzer oder auch Christian Frosch, die in Österreich auf der Straße die wenigsten erkennen. Wir sind da keine Insel der Seligen. Dennoch sieht es strukturell so aus, dass österreichische Förderstellen ein gewisses Risiko eingehen und durchaus auch experimentelles oder mutiges Kino ermöglichen. Unser Eröffnungsfilm »Sonne« von Kurdwin Ayub ist so ein Beispiel. Zugleich ist es immer noch ein Streitthema, wie eine zukunftsgerichtete Nachwuchsförderung auszusehen habe.

S. H.: Es gibt eine gewisse Tradition des Autorenfilms, die bei Förderentscheidungen berücksichtigt wird, so dass manche Filme schneller entstehen können und dürfen. Die nächste Hürde ist aber dann das Zweitlingswerk. Rentiert sich der Debütfilm nicht, ist es schwer, erneut Förderung zu bekommen. Man darf sich keinen Flop erlauben, und diesen Druck gilt es abzumildern. Bei Kurdwin Ayub ist es tatsächlich so, dass eine junge aufstrebende Filmemacherin mit Ulrich Seidls etablierter Produktionsfirma zusammenarbeiten konnte. Da finden zwei Welten zu­einander.

Ein Special der Diagonale steht dieses Jahr im Zeichen des Rauschs und widmet sich dem »narkotischen Kino« Österreichs. Kommt das Kino im Rausch, gewissermaßen als rauschender Zug der Bilder, zu sich selbst?

S. H.: Die Affinität von Kino und Rausch beschäftigt uns schon lange. Wir wollten den Begriff Rausch nicht ins Englische übersetzen, weil ihm dabei seine Mehrdeutigkeit abhanden kommt. Kino als Rausch bedeutet Bilderfluten, das Einprasseln von Eindrücken und eine Steigerung der Wahrnehmung. Man denkt Filme nicht mehr aus einem Alltagsverständnis heraus, sondern spürt sie durchaus ganz körperlich.

Nach zwei Jahren Pandemie ist der Rausch auch ein Politikum geworden. Es gab in Österreich große Debatten über feiernde Jugendliche, die von der Polizei zusammengetrieben wurden. Der Rausch wurde ­problematischerweise in den Privatraum zurückgedrängt.

P. S.: Rausch kann auf eine Art natürlich auch zur Verblendung und zum Wahn neigen. In Österreich gibt es die euphemistische Formulierung, etwas sei eine »b’soffene G’schicht«. Heinz-Christian Strache hat die Ibiza-Affäre so kommentiert. Beim großen Gerhard Bronner heißt’s satirisch: »Wir waren schon – wie man so sagt – après.« Diese Verniedlichungen des Rauschs sind typisch öster­reichisch, denn die Kehrseite einer solchen »b’soffenen G’schicht« ist häufig brutal. Wir wollen diese Ambivalenz ausmessen.

»Der Filmkritiker und Regisseur Rüdiger Suchsland hat einmal gesagt: ›Das Kino weiß, was wir nicht wissen‹ – beziehungsweise noch nicht wissen. So ein semipsychoanalytischer Ansatz treibt uns um.« Peter Schernhuber

S. H.: Es gibt auch immer wieder retrospektive Verklärungen längst vergangener Abende auf der Diagonale, die weniger auf die konkreten Diskussionen abzielen als darauf, wie aufgebrachte Filmemacher damals nach Filmvorführungen noch mit Bierflaschen um sich warfen. Österreich, der österreichische Film und der Alkohol pflegen eine problembeladene und zugleich hochinteressante Beziehung.
P. S.: Der österreichische Film ist nun mal keine Straight-Edge-Kultur.

Dem Kino wie dem Rausch werden immer wieder Weltflucht und Eskapismus vorgeworfen. Ist das gerechtfertigt?

P. S.: Das ist ein Widerspruch, denn im österreichischen Film ist der ­Kinogänger allgemein nicht auf Zerstreuung aus. Die Filmkultur gibt das nur sehr selten her.

S. H.: Kino ist ein Ort, um auf andere Gedanken zu kommen. Das kann Zerstreuung bedeuten, aber auch Erkenntnis. Oder beides. Das gibt das Kino immer noch sehr wohl her. Das kann man in der Form nicht erfahren, wenn man zu Hause sitzt und alleine etwas anschaut. Im Kinosaal existiert eine ganz andere Art der Konzentration, der Zerstreuung und der Erkenntnis. Die stellt sich nur beim Filmschauen in Gesellschaft ein und besitzt natürlich eine politische Dimension.

Der diesjährige Eröffnungsfilm »Sonne« der kurdisch-österreichischen Regisseurin Kurdwin Ayub erzählt über den Rausch als Ausweg aus einem konservativen migrantischen Umfeld, Ulrich Seidls neuer Film »Rimini« hingegen von einem abgehalfterten Schlagersänger, also einem, der im rauschhaften Amüsierbetrieb arbeitet. Eignet sich der Rausch besonders, um Hoffnung und Desillusion, Erkenntnis und Irrationalität als miteinander verschränkt darzustellen?

P. S.: »Rimini« und »Sonne« gehen von unterschiedlichen Ausgangspunkten und Generationen aus. In ihrer Sehnsucht nach den »kleinen Paradiesen« sind sich die Protagonisten und die Filme aber wahnsinnig nahe. Das ist das Schöne, dass Ayubs und Seidls Protagonisten sich auf der Leinwand quasi treffen könnten und diese Figuren sich viel mehr zu sagen hätten, als man annehmen würde. Weil man sie gerade nicht kulturalisiert, was derzeit zu oft geschieht. »Sonne« scheint für viele identitätspolitische Diskurse der Zeit anschlussfähig, verweigert sich aber all dem auch ganz nonchalant. Eigenen und fremden Kulturen den Respekt verweigern, könnte man mit Sama Maani sagen. Man lässt sich vielmehr darauf ein, diesen Figuren beim Leben zuzuschauen. Es sind beides auch sehr musikalische Filme. In der Berichterstattung zur Berlinale ist der Schlager- und Popkultur­aspekt etwas untergegangen. Bei Udo Jürgens heißt es: »Immer wieder geht die Sonne auf«, da treffen sich die gegenwärtige Popkultur von »Sonne« und die Schlagerwelt von »Rimini« in ihrer Sehnsucht nach Freiheit. Wir finden, Ayub tritt damit in sensationeller Weise die Nachfolge von Ulrich Seidl und Michael Glawogger an.

Filmstill aus »Sonne«

 Lief schon erfolgreich auf der Berlinale. Szene aus »Sonne« von Regisseurin ­Kurdwin Ayub

Bild:
Ulrich Seidl Filmproduktion

Die »Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll«-Trilogie des 2014 verstorbenen Michael Glawogger wird dieses Jahr auch auf der Diagonale gezeigt. Einerseits sind diese Filme derbe Schwänke, andererseits entspringen sie einer experimentellen Grazer Theatertradition. Eine Synthese von volkstümlichen und gegenkulturellen Aspekten?

S. H.: Glawoggers Filme zeichnet eine unglaubliche Neugierde und Verspieltheit aus. Wenn ein Hund irgendwo langläuft, wird die Kamera draufgehalten. Das sind Bildparadiese im Alltäglichen. Er hatte niemals diesen Weltverbesserungsgestus, sondern eine spitzbübische Freude am Hinschauen und Zeigen. Die Verspieltheit seiner Filme lässt die Verhältnisse für sich selbst sprechen.

Ist ein Kino, das selbst aus finstersten Momenten noch Lust und Rausch zieht, der einzig verbleibende Gegenentwurf zu einem Alltag, der sich von allen großen ­Erzählungen und Utopien verabschiedet hat?

P. S.: Die Ideologieproduktion heute umzingelt uns mit vermeintlichen Utopien oder apokalyptischen Weltuntergangsszenarien, die dann umschlagen in zwanghaften Aktivismus. Der Filmkritiker und Regisseur ­Rüdiger Suchsland hat einmal gesagt: »Das Kino weiß, was wir nicht wissen« – beziehungsweise noch nicht wissen. So ein semipsychoanalytischer Ansatz treibt uns um. Das Rausch-Programm ist ein Guckloch, durch das sich erschielen lässt, wie es anders sein könnte. Wir schaffen die Rahmenbedingungen dafür. Was in diesem Rahmen entsteht, ist dem Kino und dem Publikum überlassen. Wir öffnen nur die Fenster.

 

Das Filmfestival Diagonale, dass erstmals 1993 ausgerichtet wurde und seit 1998 jedes Jahr in Graz stattfindet, widmet sich dem österreichischen Film und vergibt Preise in mehreren Kategorien. Seit 2016 leiten das Festival Sebastian Höglinger und ­Peter Schernhuber, die gleich in ihrem ersten Jahr einen Besucherrekord verzeichnen konnten. Die diesjährige Diagonale findet vom 5. bis zum 10. April statt.