Gisela von Wysockis »Der hingestreckte Sommer« übt sich in diskretem Er­innern

Auf den Schultern des Riesen

Die Schriftstellerin Gisela von Wysocki hat für ihr Buch »Der hingestreckte Sommer« Geschichten verfasst, die trotz ihrer Diskretion das Erinnern üben.

Im 29. Aphorismus der »Minima Moralia« schreibt Theodor W. Adorno über Marcel Proust. Dessen »Höflichkeit« sei es, »dem Leser die Beschämung zu ersparen, sich für gescheiter zu halten als den Autor«. Proust, der sich mit seinen mehr als 4 000 Seiten »À la recherche du temps perdu« offensichtlich keine Mühe gab, den Anschein zu erwecken, tatsächlich gelesen werden zu wollen, wurde trotzdem zu einem Klassiker der Moderne. Vielleicht auch gerade deswegen: Schließlich gehört es beinahe zur Definition eines Klassikers, ungelesen zu sein. Das, was Proust in feiner Ziselierung über so viele Seiten auswalzt, ist die Erinnerung. Dass diese Art der ­biographisch-psychologischen Arbeit nicht vieler ausufernder Bände bedarf, stellt die Autorin Gisela von Wysocki in ihrem Prosaband »Der hingestreckte Sommer« unter Beweis.

Wysocki studierte bei Adorno, und zwar nicht in dem Sinne, in dem heutzutage jeder, der »Teddy« mal auf dem Flur gesehen hat, als »Adorno-Schüler« gilt, sondern teilweise als Promovendin bei ihm. Über ihren einstigen Professor schrieb sie einen Roman, der 2016 unter dem Titel »Wiesengrund« erschien. Insofern kennt Wysocki sicherlich das Lob der Proust’schen Höflichkeit. Zwar hat ihre Textsammlung nur einen Bruchteil des Umfangs der »Recherche«, doch eignet ihr dieselbe Höflichkeit, dem Leser die Beschämung zu ersparen, sich für gescheiter als die Autorin zu halten. Es gibt keine lineare Erzählung, keine moralisch erhebende Botschaft – warum man sich als Leser ausgerechnet diesen Texten widmen sollte, muss man selbst herausfinden. In Zeiten boomender Autofiktion, geschrieben von sozialen Aufsteigern mit schlechtem Gewissen, und anderer Bekenntnisliteratur ist das erfrischend altbacken.

Wysockis Texte sind wie Schlüssel zu ihrem Leben, doch ohne dass sie die Leser allzu viel aufsperren lässt. Die Schönheit liegt gerade im Klimpern der aneinanderstoßenden Schlüssel.

Der Verlag verzichtet auf eine Gattungsbezeichnung, und tatsächlich fällt es schwer, diese Zusammenstellung anders zu kategorisieren als mit dem begrifflichen Behelf »Prosasammlung«. Diese Sammlung besteht aus kurzen, meist nur wenige Seiten umfassenden Texten, die sich oft an Erinnerungen der Autorin entzünden, in einigen Fällen jedoch auch an randständigen historischen Figuren, denen die Verfasserin wohl im Lauf ihres Lebens arbeitend und denkend begegnet ist. Manchmal werden diese Bezüge aufgeklärt, oft nicht. Überhaupt lässt sie vieles im Unklaren. Selbst jene Texte, die man im Laufe des Lesens eindeutig als Erinnerung der Autorin zu identifizieren glaubt, beginnen oft mit einem kleinen Detail, das zwar begutachtet, beobachtet, zum Sprechen gebracht wird, dessen Name sich aber erst im Laufe des Textes offenbart. Wie eine Kamera, die zunächst aus nächster Nähe einen Punkt fixiert, der sich mit zunehmender Entfernung als Teil eines Bildes offenbart, entwickeln sich diese Texte. Das Verfahren stellt damit eine erstaunlich präzise Nachahmung des vor allem kindlichen, sich Neues erschließenden Wahrnehmungsprozesses dar. Was zunächst als Fleck erscheint, erwacht plötzlich zur Bewegung und offenbart sich schließlich als angefahrene Schlange auf einer Straße. Ein Kunststück, das einem auf so wenig Platz erst einmal gelingen muss.

Gewiss, diese Erinnerungen sind bei einer im Jahr 1940 geborenen Autorin oftmals Botschaften aus längst vergangenen Zeiten. Doch selbst wenn sie von einem sowjetischen Mädchen als Spielgefährtin erzählt, entsteht nicht einmal ansatzweise der Eindruck »Oma erzählt vom Krieg« beziehungsweise von der Nachkriegszeit – oder eben von Opa Adorno, dessen Verzweiflung über die Diskussionsscheu seiner Studenten in einer Geschichte einen Auftritt hat. Das liegt zuerst an Wysockis gewaltiger Eloquenz, die bei den professionell Schreibenden selten geworden ist. Sie scheut sich auch nicht, ihre Diktion mit Anglizismen oder umgangssprachlichen Ausdrücken anzureichern. Sie kann die Sätze »Kafkas Erzählung In der Strafkolonie ritzte, furchte ein Wundmal in mein vierzehnjähriges Leben« und »mein Kleid im Fräuleinlook hatte für Verwunderung gesorgt« oder »Darin war Peter Altenberg eine Kanone« im selben Zusammenhang schreiben, ohne dass es unpassend wirkt. Wer so gut schreibt, muss sich keine Gedanken darüber machen, ob der Leser Kafka gelesen hat oder weiß, dass die Autorin ihre Pro­motion über den österreichischen Schriftsteller Peter Altenberg geschrieben hat (zunächst bei Adorno, später bei Alfred Schmidt).

In dieser so trotzig behaupteten Individualität liegt der Hinweis auf die tiefe Universalität menschlicher Erfahrung. Gerade der retrospektive Blick, der sprachlich vermittelt die frühen zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts mit den fünfziger oder siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts verbindet, offenbart die zentrale Botschaft ästhetischer Erfahrung: Im Leiden und Leben sind sich die Menschen gleich, no matter what.

Dabei sind Wysockis Texte wie Schlüssel zu ihrem Leben, doch ohne dass sie die Leser allzu viel aufsperren lässt. Die Schönheit liegt gerade im Klimpern der aneinanderstoßenden Schlüssel. Die Biographie der Autorin kann man sich freilich trotzdem zusammengoogeln: Wysocki wuchs als Tochter eines hohen Mitarbeiters verschiedener Plattenfirmen in bürgerlichen Verhältnissen auf. Die Familie lebte zunächst in der brandenburgischen Provinz, später in Westberlin. Ein historischer Glücksfall, ermöglichte es der jungen Frau doch ein Studium in der Bundesrepublik: Musikwissenschaft und Klavier in Westberlin, später Philosophie in Frankfurt am Main.
Kennt man diese Eckdaten, lassen sich viele Texte besser einordnen. So zum Beispiel, was Wysocki als Kind zunächst nicht weiß: dass ihre beiden älteren Halbbrüder aus der 1936 geschiedenen ersten Ehe des Vaters mit Edith Frank stammen, einer Jüdin, die 1943 mit ihrem neuen Gatten und ihrem Kind in Auschwitz ermordet wurde. Wie sie durchblicken lässt, belastete dies die Familie nicht zuletzt deshalb, weil ihre Großmütter mütterlicherseits ein Porträt Adolf Hitlers aufbewahrte.

Doch man täte dem Buch Unrecht, reduzierte man es auf biographische Auskünfte. Nein, es geht hier nicht um die Erinnerung, sondern ums Erinnern. Im Mittelpunkt steht die Form, die so in ein Verhältnis zum Inhalt gesetzt wird, dass eine betörende Schönheit entsteht. Unweigerlich denkt man an Walter Benjamins »Berliner Kindheit«. Gemeinsam mit den teils sehr deutlichen Anklängen an Adornos Stil, die in Formulierungen wie »Die Sprache hielt eine Schere bereit. Man führte sie im Mund herum und schnitt damit Dinge zu« anklingt, entsteht der Eindruck, Wysocki stehe zwar auf den sprichwörtlichen Schultern von Riesen – doch ohne sich im Geringsten als Zwergin zu erweisen. Die vielseitige Autorin, die in der Vergangenheit vor allem als Essayistin, Kritikerin und Dramatikerin von sich reden machte, hat kein theoretisches Werk in großem Umfang vorzuweisen, doch ihre Prosa ist fraglos großartig: feinsinnig, spielerisch, präzise, sich dem Gegenstand zugleich zart und erbarmungslos anverwandelnd. Dass ihr neues Buch eher ein Dasein auf der Backlist des Suhrkamp-Verlags fristen dürfte, sagt mehr über den Literaturbetrieb und die Leserschaft aus als über die Qualität des Textes.

Gisela von Wysocki: Der hingestreckte Sommer. Suhrkamp, Berlin 2022, 252 Seiten, 24 Euro