Es ist schwierig, etwas über »Die Realität kommt« von Rudi Nuss zu sagen, ohne den Roman als absolut durchgeknallt und überfordernd zu bezeichnen. In der grotesken, von digitalen Unterhaltungsangeboten überfluteten Erzählwelt gibt es keine Grenze mehr zwischen real life und Internet. Weil die meistgenutzte der unzähligen virtual realities (VR) nicht mehr gewartet wird, vermischt diese sich nun mit der »ersten Realität«. Die Figuren streifen, oftmals in Tiergestalt, durch das Internet, als wäre es ein physisch begehbarer Ort. Doch erklärt kein Erzähler, wie es zu solchen Absurditäten kommt, Nuss lässt sie so stehen, wie sie sind.
Die beliebteste VR in der vom Autor konzipierten Welt heißt Avalon. Diese hatten US-Amerikaner entwickelt, um einer sowjetischen VR namens Arkadi den Rang abzulaufen. Während die sowjetische VR nicht mehr genutzt wird, ist in der US-amerikanischen alles voller Werbung. Nun hat ein neues Kollektiv namens »Neue Immersion« Pools installiert. Sie versprechen eine neue Kommunikation »ohne Missverständnisse«. Massenweise verschwinden die Menschen in den Pools.
Die queeren Protagonisten des Romans, die in einer kleinen Community auf einem Schrottberg leben, sich von Instantnudelgerichten ernähren und ihre eigenen Drogen zubereiten, nennen die Anhänger des neuen Kults nur »die Immersionswixxer«. Halb auf der Flucht, halb auf der Suche nach etwas Besseren, schauen diese sich, schwer traumatisiert und verelendet, gegenseitig beim Sex zu und behandeln sich wie zu groß geratene Plüschtiere.
Grenzen- und Haltlosigkeit herrschen in jedem Zipfel des Romans. Wer diesem Horror standhält, wird mit einer immensen Lust am Fabulieren und einer grotesken Komik belohnt, die nicht nur das Hirn des Lesers auf Hochtouren bringen, sondern eine Utopie streifen, in der jede Realität fragil ist.
Rudi Nuss: Die Realität kommt. Diaphanes-Verlag, Zürich 2022, 248 Seiten, 22,50 Euro