Der entmachtete pakistanische Premierminister Imran Khan ruft zu Demonstrationen auf

Abgang und Proteste

Als erster Premierminister Pakistans wurde Imran Khan mit einem parlamentarischen Misstrauensvotum des Amts enthoben. Mit ­antiwestlicher Rhetorik ruft er nun zu Massendemonstrationen auf.

»Demokratie ist die beste Rache«, verkündete Bilawal Bhutto von der Pakistan Peoples Party (PPP) feierlich. 174 der 342 Mitglieder der Nationalversammlung unterstützten am 10. April das Misstrauensvotum gegen Premierminister Imran Khan. Shehbaz Sharif, dessen Bruder Nawaz Sharif dreimal als Premierminister amtiert hatte, wurde einen Tag später mit 174 Stimmen zum neuen Regierungschef gewählt.

Khan rief daraufhin zu Massendemonstrationen auf, zum Freiheitskampf Pakistans gegen das »importierte Regime« aus den USA, wie er die neue Regierung nennt. Erneut mobilisierte er die Wut auf das korrupte Establishment in Islamabad und die USA. Landesweit wurden Bilder von US-Präsident Joe Biden und Flaggen der USA öffentlich verbrannt, vor allem junge Demonstranten riefen: »Mit Glaubensgewissheit, mit Glaubenstreue, mit Imran«, und: »Wir sind keine Sklaven Amerikas!« Khans Abgang ähnelt dem Donald Trumps: Von der Verantwortung des Amts befreit, bedienen seine populistischen Parolen noch hemmungsloser eine destruktive Dynamik, die seine enttäuschten Anhänger radikalisiert.

Nachdem die Nationalversammlung am 8. März ein Misstrauensverfahren gegen ihn begonnen hatte, verfügte Khan am 3. April deren Auflösung. Diesen letzten Versuch des Premierministers, sich im Amt zu halten, erklärte der Oberste Gerichtshof für verfassungswidrig. Bereits auf einer Massenkundgebung am 27. März bezeichnete Khan das Misstrauensvotum gegen ihn als ausländische Verschwörung, bezichtigte kritische Parlamentarier des Landesverrats und bezeichnete sie als Bedrohung für die nationale Sicherheit Pakistans.

Imran Khans antiamerikanische Aussagen mögen das Militär, die zentrale Machtinstitution Pakistans, bewogen haben, ihm die Unterstützung zu versagen.

Später konkretisierte er, die USA wollten den Regimewechsel in Pakistan, um ihn für seine Auslandsreise nach Moskau zu bestrafen. Am 24. Februar, dem Tag des Beginns der russischen Invasion der Ukraine, hatte Khan Russlands Präsidenten Wladimir Putin für ein dreistündiges Gespräch über eine geplante Energiepartnerschaft getroffen; es war der erste Besuch eines pakistanischen Regierungschefs in Russland seit 23 Jahren. Gegen Khans Verschwörungstheorie spricht jedoch, dass der Oppositionsführer das Misstrauensvotum am 11. Februar angekündigt hatte; bereits ab 10. Januar hatten Par­lamentarier der Opposition öffentlich diesen Verfahrensweg gefordert.

Als Reaktion auf den demokratischen Machtwechsel legten mehr als 100 Parlamentarier von Khans Partei PTI (Pakistanische Gerechtigkeitsbewegung) vorige Woche ihr Mandat nieder. Es ist der Versuch, das demokratische System von innen zum Kollaps zu treiben. Die politische Krise ist noch nicht überwunden, die soziale Unzufriedenheit ist vor allem wegen der Inflation groß.

Der Verbraucherpreisindex maß im März mehr als 12,7 Prozent Verteuerung im Vergleich zum Vorjahresmonat; rechnet man Khans Maßnahmen zur Strom- und Benzinpreisstabilisierung heraus, betrug die Inflation im März über 15 Prozent. Würden die Wechselkursverluste der Rupie und gestiegene Importpreise an die Verbraucher weitergegeben, müsste allein der Benzinpreis um über 83 Prozent steigen. Der Warenkorb des pakistanischen Statistik­amts, der auch Grundnahrungsmittel beinhaltet, war in der ersten April­woche um knapp 18 Prozent teurer als im Vorjahreszeitraum.

Imran Khan bediente sich nach mehr als dreieinhalb Jahren im Amt noch immer allzu durchschaubarer ­Parolen und versprach baldiges wirtschaftliches Wachstum. Seine antiamerikanischen und antiwestlichen Aussagen mögen das Militär, die zentrale Machtinstitution Pakistans, bewogen haben, ihm im entscheidenden Machtkampf die Unterstützung zu versagen. Als in Islamabad 23 Botschafter, überwiegend solche von EU-Ländern, Khan am 1. März in einem offenen Brief aufforderten, Russlands Invasion der Ukraine zu verurteilen, wütete der Premierminister: »Für wen haltet ihr uns? Für eure Sklaven, die nach eurer Pfeife tanzen?« Der damalige Außenminister Shah Mahmood Qureshi ­äußerte sich am 10. April ähnlich: »Pakistan befindet sich an einem Wendepunkt seiner Geschichte. Die Nation muss sich entscheiden, ob sie in einem souveränen Staat leben oder Sklave bleiben will.« Dieser antiwestlichen Rhetorik widersprach Generalstabschef Qamar Javed Bajwa, am 2. April verurteilte er Russlands Angriff auf die Ukraine.

Die von Sharifs konservativer Partei PML-N (Pakistan Muslim League – ­Nawaz) geführte neue Regierung ist eine opportunistische Allianz miteinander rivalisierender Parteien, geschmiedet aus dem einzigen gemeinsamen In­teresse, Khan zu stürzen. Ohne ihn als vereinigenden Gegner droht sie in alte Konflikte zurückzufallen. Die nächsten regulären Wahlen sind für September 2023 geplant; um bis dahin durchzuhalten, müsste die Regierungskoalition schnell der sozialen Krise entgegenwirken, die Wirtschaft stabilisieren und den Kursverlust der Rupie sowie die Steigerung der Benzin- und Lebensmittelpreise bremsen.

Khan war der erste Premierminister Pakistans, der auf demokratischem Weg mit einem parlamentarischen Misstrauensvotum des Amts enthoben wurde – Nawaz Sharif etwa war einmal im Rahmen eines Abkommens zurückgetreten, einmal vom Militär und einmal vom Obersten Gericht abgesetzt worden. Dass Khan den Tag seiner Amtsenthebung als »Beginn eines Freiheitskampfs« bezeichnete, muss als Drohung verstanden werden. Weitere Proteste sind zu erwarten, die politische Konkurrenz könnte blutig eskalieren, insbesondere wenn, wie allgemein erwartet wird, vorgezogene Neuwahlen stattfinden.
Den Parteien der neuen Koalition dürfte es im Wahlkampf schwerfallen, ökonomische Entscheidungen zu treffen, die Wählerstimmen kosten können. Andererseits kann der Staatshaushalt den Anstieg der Energiekosten nicht ewig durch Subventionen kompensieren, und ein schneller wirtschaftlicher Aufschwung ist nicht in Sicht. Soziale Proteste scheinen unausweichlich. Eine Eskalation der Konflikte aber könnte die Militärführung, die sich weiterhin als Hüterin der Stabilität betrachtet, zur Intervention bewegen.