Die Reaktionen nach der Ausladung durch Kiew von Bundespräsidenten Steinmeier

Die Russland-Connection

Die Kritik an der lange russlandfreundlichen Politik Deutschlands wächst. Manche der Verantwortlichen fühlen sich arg missverstanden.

Bei vielen in Deutschland war die Empörung groß, als der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Mitte voriger Woche mitteilte, er könne eine geplante Reise nach Kiew nicht antreten, weil die ukrainische Regierung ihn dort nicht empfangen wolle. Sein größter Verteidiger war wohl Sigmar Gabriel (SPD), einer von Steinmeiers Nach­folgern als Außenminister. In einem Gastbeitrag im Spiegel schrieb Gabriel, die Ausladung des Bundespräsidenten sei »beispiellos und irritiert«. Gerade Steinmeier habe gemeinsam mit Angela Merkel »mehr als alle anderen in ­Europa« für die Ukraine getan. »Wahrheitswidrig und bösartig« sei der ­Vorwurf des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk, Steinmeier habe »seit Jahrzehnten ein Spinnennetz mit Russland geknüpft«. Melnyk verbreite »Verschwörungstheorien über die Politik unseres Landes und seine Verantwortungsträger«. Diesen Vorwurf griff die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass dankbar auf, mit der Überschrift: »Ex-Chef des Auswärtigen Amtes beschuldigt ukrainischen Botschafter der Verbreitung von Verschwörungstheorien«.

Gabriel verteidigte mit dem Gastbeitrag nicht nur Steinmeier, sondern nicht zuletzt auch sich selbst. Steinmeier und Gabriel waren zwei der wichtigsten Figuren der auf wirtschaftliche Kooperation ausgerichteten deutschen Russland-Politik der vergangenen Jahre. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte diesen Kurs vehement eingeschlagen, Angela Merkel führte ihn fort. Steinmeier war jahrelang Schröders Kanzleramtschef und hatte in dieser Funktion unter anderem das erste Nord-Stream-Projekt eingefädelt. Als die SPD 2005 die Wahl verlor, wurde Schröder Aufsichtsratschef im Nord-Stream-Konzern und Steinmeier wurde Außenminister unter Merkel. In dieser Funktion entwickelte Steinmeier ganz offiziell das Konzept »Wandel durch Verflechtung« für die deutsche Russland-Politik. Gemeint war de facto, dass die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen im Vordergrund stehen sollten.

Als Außenminister entwickelte Steinmeier ganz offiziell das Konzept »Wandel durch Verflechtung« für die deutsche Russland-Politik.

Diese Haltung wurde auch vom Maidan 2014 und der anschließenden Destabilisierung der Ukraine durch Russland nicht wesentlich erschüttert. Von 2013 bis 2017 war Steinmeier erneut Außenminister, Gabriel fungierte als Wirtschaftsminister. In diese Jahre fielen die Annexion der Krim, die inoffizielle russische Intervention in der Ostukraine – und der Spatenstich für Nord Stream 2. Insbesondere Sigmar Ga­briel setzte sich unbeirrt für dieses Projekt ein. 2016 war er in Moskau zu Besuch und sagte dort, es sei wichtig, die »Möglichkeiten externer Einmischung begrenzt« zu halten. Gemeint waren wohl vor ­allem osteuropäische EU-Staaten, die das Projekt von Anfang an ablehnten, aber auch die USA, die es ebenfalls kritisierten.

Die Vorstellung, dass Deutschland seine Interessen gemeinsam mit Russland auf Kosten der Ukraine durch­gesetzt hat, kommt Gabriel in seinem Gastbeitrag nicht in den Sinn. Er gesteht lediglich ein, dass man lange nicht verstanden habe, dass Russland »seit Langem zu einer revisionistischen Macht geworden« sei. Man sei also gewissermaßen zu naiv gewesen, mehr könne man der deutschen Politik nicht vorwerfen. Stattdessen meint Gabriel den »eigentlichen Grund für die gezielten Angriffe« auf die bisherige deutsche Politik gegenüber Russland erkannt zu haben. Denn man müsse jetzt schon an den »Tag danach« denken, an dem der Krieg vorbei, Russland aber nicht besiegt sei. Dafür müsse man Konzepte entwickeln, um einen »Kalten Frieden« mit Russland wiederherzustellen. Doch »exakt diesen Weg will der heutige ukrainische Präsident ausschließen«, ­indem er jemanden wie Steinmeier diskreditiere, schreibt Gabriel.

Die ukrainische Regierung hat wohl eine grundlegend andere Perspektive, die durch den russischen Angriff bestätigt wurde. Russland hegte nie die Absicht, eine unabhängige Ukraine zu akzeptieren, sondern hatte sich vielmehr schon länger auf einen Krieg wie diesen vorbereitet. Die deutsch-russische »Verflechtung« mag sich für Deutschland gelohnt haben, doch aus der ukrainischen Perspektive stellte sie eine Gefahr dar. Noch 2020 hat Deutschland Dual-Use-Güter im Wert von 366 Millionen Euro an Russland ­geliefert – also Komponenten, die auch für Rüstungsgüter gebraucht werden. Und das, obwohl EU-Sanktionen gegen Russland deren Ausfuhr zu dem Zeitpunkt schon stark einschränken sollten.

Aus all diesen Gründen wollte die ­Ukraine womöglich Steinmeier nicht erlauben, seine ramponierte Reputation in Kiew wieder aufzubessern. Über die Motive der ukrainischen Regierung lässt sich freilich nur spekulieren. Womöglich stand dahinter auch der ganz pragmatische Versuch, Druck auf die deutsche Regierung auszuüben, damit diese die Unterstützung für die Ukraine erhöht. Derzeit gibt es in der Ampelkoalition Konflikte darüber, ob schwere Waffen an die Ukraine geliefert werden sollen. Insbesondere die SPD scheint das abzulehnen. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sprach sich dagegen für die Ausweitung der Waffenlieferungen aus, schloss dabei aber »schwere Panzer und Flugzeuge« aus. Der Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter von den Grünen wurde noch deutlicher und sagte: »Das Problem ist im Kanzleramt.«
Nun hat die deutsche Bundesregierung Militärhilfen im Umfang von über einer Milliarde Euro an die Ukraine angekündigt. Wann die Ukraine das Geld erhalten soll, ist bislang nicht bekannt.

Forscher des Kieler Institute for the World Economy haben Daten darüber gesammelt, welche Länder derzeit der Ukraine wie viel Hilfe zukommen ­lassen. Die Zahlen umfassen den Zeitraum vom 24. Februar, also dem Beginn des Kriegs, bis zum 27. März – die geplante weitere Milliarde deutscher Militärhilfe ist also nicht mitgerechnet. Ganz vorne liegen die USA mit fast acht Milliarden Euro an militärischer und humanitärer Hilfe. Deutschland liegt auf Platz vier, mit knapp einer halben Milliarde Euro. Setzt man die Hilfszahlungen ins Verhältnis zu dem Bruttoinlandsprodukt der Länder, liegt Estland ganz vorne, Deutschland auf dem zwölften Platz.