Ein Gespräch mit Bahar Haghanipour (Grüne) über den Hatun-Sürücü-Preis

»Femizide sind nicht das Problem einer bestimmten Kultur«

Weder »Ehrenmord« noch »Familiendrama«. Bahar Haghanipour spricht aus Anlass der Vergabe des Hatun-Sürücü-Preises über Femizide und Empowerment gegen patriarchale Machtstrukturen.
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Der Hatun-Sürücü-Preis wird in ­diesem Jahr erstmals nicht an Sürücüs Todestag im Februar, sondern in der Woche des Girls’ Day vergeben – eines Aktionstags, der junge Frauen dazu ermutigen soll, Berufe zu ergreifen, die traditionell von Männern ausgeübt werden. Warum?

Aus Anlass des zehnten Jubiläums ­haben wir uns zusammengesetzt und besprochen, ob und wie der Preis sich verändern soll. Wir sind schnell auf den gemeinsamen Nenner gekommen, dass es bei der Auszeichnung im Kern um Empowerment geht. Da sich der Girls’ Day ebenfalls um Empowerment dreht, wollten wir das verbinden.

Sie sind die einzige Abgeordnete, die der fünfköpfigen Jury des Preises angehört, neben »vier enga­gierten Frauen aus der Zivilgesellschaft«. Wie werden diese aus­gewählt?

»Der Begriff Femizid betont die Geschlechterperspektive und benennt somit das Grundproblem: dass Männer denken, eine Frau solle ihr Leben nicht selbstbestimmt führen.«

Es sind Frauen, die von Fraktionsmitgliedern vorgeschlagen und danach angefragt wurden. Das Interesse war bei allen da. Ich fand es sehr schön zu sehen, dass die Verbundenheit mit Hatun Sürücü und diesem Preis nach zehn Jahren noch so groß ist. Eine Jurorin hat berichtet, dass sie Hatun kannte. Diese Jurorin hat Anfang der nuller Jahre in einem Restaurant gekellnert. Eine ihrer Kolleginnen war eine sehr gute Freundin von Hatun, die deshalb oft in dem Lokal war. Als der Fall nach Hatuns Tod durch alle Medien ging, wurde der Jurorin klar, dass sie Hatun gekannt hatte – das Mädchen von ­nebenan, sozusagen.

Was soll der Preis bewirken?

In Berlin gibt es so viele kleine, tolle Initiativen. Gerade diese Projekte versuchen wir sichtbar zu machen. Es geht uns um die Auszeichnung von Menschen und Projekten, die nicht sehr bekannt sind.

Weshalb wurde der Hatun-Sürücü-Preis 2013 ins Leben gerufen?

Die damalige frauenpolitische Sprecherin der Grünen im Abgeordnetenhaus, Anja Kofbinger, und die damalige Sprecherin für Partizipation, Susanna Kahlefeld, haben diesen Preis als Gegenentwurf zu dem initiiert, was in den Medien zum Fall Hatun Sürücü kommentiert wurde. Dort überwog das Bild von Hatun als Opfer. Die Tat wurde als kulturell bedingter Femizid dargestellt. Das hat die beiden gestört, weil Hatuns Leben dadurch nicht ausreichend gewürdigt wurde. Sie hat ein selbstbestimmtes, mutiges Leben geführt, was medial überhaupt nicht erwähnt wurde. Es wurde immer nur von einem sogenannten Ehrenmord gesprochen. Der Preis sollte eine andere Botschaft zum Fall Sürücü senden.

Hat sich die öffentliche Debatte über den Fall Hatun Sürücüs gewandelt?

Was den Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt angeht, sind wir noch lange nicht am Ziel, aber dass sowohl Journalistinnen und Journalisten als auch Politikerinnen und Politiker mittlerweile den Begriff »Femizid« anstatt »Ehrenmord« verwenden – auch für den Fall Hatun Sürücü –, ist ein Fortschritt. Wenn die »deutsche« Nach­barin von ihrem Mann ermordet wird, dann ist das auch ein Femizid. Da sind wir auf einem guten Weg, aber er ist noch lang.

Warum ist der Begriff »Ehrenmord« Ihrer Ansicht nach nicht angemessen?

Weil er die patriarchalen Machtstrukturen hinter solchen Taten verkennt. Der Begriff Femizid betont die Geschlechterperspektive und benennt somit das Grundproblem: dass Männer denken, eine Frau solle ihr Leben nicht selbstbestimmt führen. Der Mann beansprucht die Macht, ihr das zu untersagen. Wie im Fall Sürücü kann es so weit gehen, dass der Mann ihr Leben auslöscht.

Von »Ehrenmorden« ist in den Medien hierzulande fast ausschließlich die Rede, wenn die Tat im Umfeld von islamisch geprägten Familien begangen wurde, so wie im Fall Sürücü.

Ja, und das wird den Opfern und der Problematik nicht gerecht. Femizide kommen in allen Gesellschaftsschichten und in allen Nationalitäten vor. Wenn wir immer nur auf migrantische Gruppen schauen, machen wir es uns zu einfach, weil wir eine Minderheit als Sündenbock hervorheben. Spezifisch an den sogenannten Ehrenmorden ist, dass die Familie im Beziehungsgeflecht eine Rolle spielt. Das Grundproblem der patriarchalen Machtstrukturen aber ist das gleiche.

Diese Femizide, die aus dem Motiv der sogenannten Familienehre begangen werden, sind in Deutschland statistisch gesehen fast ausschließlich ein migrantisches Phänomen. Die meisten Täter stammen aus der Türkei oder aus arabischen Ländern. Was würden Sie Menschen entgegnen, die Gewalt gegen Frauen als ein spezifisches Problem des Islam darstellen?

Ich würde Femizide in muslimisch geprägten Familien nicht als Konsequenz von religiösen Konflikten bezeichnen, weil es religiösen Menschen nicht gerecht wird. Wenn ein nicht migrantisierter Deutscher eine Frau vor dem Hintergrund einer Beziehung tötet, werden ja auch nicht alle Christen in der öffentlichen Debatte pauschal verdächtigt, Frauen umbringen zu wollen, wenn sie nicht ihren Vorstellungen entsprechen.

Plädieren Sie dafür, dass Medien den Begriff »Ehrenmord« nicht mehr verwenden?

Ja. Der Begriff »Ehrenmord« wirkt kulturalisierend und ist extrem negativ besetzt. Ähnliche Taten, die von nicht migrantisierten Menschen begangen werden, werden in den Medien als »Familiendrama« bezeichnet. Diese Täter haben einen kulturellen Bonus.

Wenn medial einmal von einem »Ehrenmord« und einmal von einem ­»Familiendrama« die Rede ist, ist das für mich keine qualitativ gute Berichterstattung. In Deutschland versucht jeden Tag ein Mann, eine Frau vor dem Hintergrund einer Beziehung umzubringen. Wenn man immer nur migrantisierte Fälle nach vorn stellt, dann ergibt sich ein verzerrtes Bild von der Situation, die wir in Deutschland ­haben.
Verzerrt in welcher Hinsicht?

2019 hat die Zeit in sehr eindrücklicher Art und Weise alle Tötungsdelikte des vorangegangenen Jahres dokumentiert, bei denen Männer ihre Partnerin oder ehemalige Partnerin umgebracht hatten. Diese Recherche zeigt, dass Femizide nicht das Problem einer bestimmten Kultur sind.

Durch ein bestimmtes wording in der Berichterstattung werden Morde an nicht migrantisierten Frauen als »Beziehungsdramen« oder »Tragödie« ­verharmlost. Morde an migrantisierten Frauen dagegen werden durch ihre Kennzeichnung als »Ehrenmord« einer Gesellschaftsgruppe angeheftet, die dadurch stigmatisiert wird – nach dem Motto: »Bei euch ist das ja normal.«

Ihre Familie stammt aus dem Iran, Sie wuchsen in Berlin auf und ­waren Anfang 20, als Hatun Sürücü ermordet wurde. Wie haben Sie die Debatten über den Fall wahrgenommen?

Ich erinnere mich an den Fall, aber nicht mehr daran, wie ich ihn wahrgenommen habe. Ich weiß aber, dass mir der Begriff des sogenannten Ehrenmordes seitdem geläufig ist. Das mediale Echo auf den Fall Sürücü hat bewirkt, dass migrantisierte Menschen stärker stigmatisiert werden. Ich kenne das aus meinem Alltag, und das sind keine Einzelfälle. Die Leute sehen mich und denken: Schwarzkopf, iranischstämmig – da sind doch patriarchale Machtstrukturen in der Familie. In der Schule und im Studium bekam ich oft zu hören: »Du darfst doch bestimmt keinen Freund haben.« Das Bemerkenswerte daran ist, dass ich mal eine Deutsche ohne Migrationshintergrund kennengelernt habe, die wirklich keinen Freund haben durfte, weil die Familie stockkonservativ war.

Der Mord an Hatun Sürücü war das Ende einer Eskalation von Gewalt und sozialen Kontrollmechanismen, um ihr ein emanzipiertes Leben zu verwehren. Zuvor wurde sie mit ihrem Cousin in Istanbul zwangsverheiratet, später von ihren Brüdern fortlaufend bedroht. Wie kann der Staat Frauen besser schützen?

Eine wichtige Maßnahme ist die Umsetzung der sogenannten Istanbul-Konvention, die den Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt rechtlich gewährleisten soll. Sie ist in Deutschland 2018 in Kraft getreten. Die Umsetzung dieser Konvention könnte bestmöglichen Schutz für Frauen und Mädchen bieten, sie muss nun Artikel für Artikel implementiert werden. In Artikel 46 steht beispielsweise, dass eine Strafe verschärft werden soll, wenn eine Tat im Beziehungskontext begangen ­wurde.

Ein zweiter wichtiger Aspekt der ­Istanbul-Konvention ist die Fortbildung von Sozialarbeiterinnen und Sozial­arbeitern, den Angestellten der Justiz, von Jugendämtern und ähnlichen Institutionen. Drittens muss die Mädchen- und Jugendarbeit, aber auch die Täter­arbeit, mehr unterstützt werden. An diesem Punkt schließt sich der Kreis zum Hatun-Sürücü-Preis, weil er Mädchen- und Jugendarbeit ebenfalls ­unterstützen will, und zwar hinsichtlich der Sichtbarkeit und Würdigung.

 

Bahar Haghanipour
Foto: Thomas Lobenwein


Die 38jährige Sozialwissenschaftlerin Bahar Haghanipour ist frauenpolitische Sprecherin der Grünen und Vizepräsidentin im Berliner Abgeordnetenhaus. Am 29. April verleiht ihre Fraktion zum zehnten Mal den ­Hatun-Sürücü-Preis, der Personen und Initiativen würdigen soll, die die Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen fördern. Benannt ist die Auszeichnung nach ­einer Deutsch-Kurdin, die 2005 in Berlin von einem ­ihrer Brüder ermordet wurde, weil sie ein emanzipiertes ­Leben führte. Die gelernte Elektroinstallateurin Hatun Sürücü war zum Zeitpunkt ihres Todes 23 Jahre alt und ­alleinerziehende Mutter.