Die Politik der Türkei ähnelt in v­ielen Punkten der Russlands

Gute Autokraten, schlechte Autokraten

Die Türkei wird wegen des Ukraine-Kriegs von Deutschland hofiert und kann sich als Friedensvermittler inszenieren. Dabei ist die Politik des Erdoğan-Regimes der Russlands in vielen Punkten ähnlich.
Disko Von

Abschaffung der Demokratie, tagtägliche Festnahmen von Oppositionellen, Zerschlagung zivilgesellschaftlicher Organisationen, Ausschaltung von kritischen Medien, unzählige Menschenrechtsverletzungen, Angriffskriege in Nachbarländern und Unterstützung von gewalttätigen Milizen außerhalb des eigenen Staatsterritoriums: Nein, die Rede ist nicht von Russland. Während der Ukraine-Krieg den Blick auf die Innen- und Außenpolitik des russischen Regimes unter Wladimir Putin lenkt, bleiben die Taten der türkischen Autokratie unter Recep Tayyip Erdoğan weitgehend unbeachtet. Vielmehr wird Erdoğan wahlweise als Verbündeter der westlichen Staaten oder als Friedensvermittler hofiert. Das zeigte sich noch Anfang März bei einem Treffen der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) mit ihrem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu, von dem Baerbock demonstrativ Fotos auf Twitter veröffentlichte.

Dabei lässt sich selbst bei einem flüchtigen Blick nicht verkennen, welch ­destruktive Politik die Türkei sowohl auf dem eigenen Staatsgebiet als auch in der gesamten Region betreibt. Vor wenigen Tagen erst hat die Türkei eine erneute Militäroffensive im kurdischen Nordirak begonnen, die wieder einmal als »Antiterroroperation« gegen die kurdische PKK deklariert wird. Anders als beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, bei dem deutsche Medien die Falschbehauptungen des Angreifers nur noch selten unkommentiert wiedergeben, begnügen sich dieselben Medien bei der Offensive im Nordirak weitgehend mit der türkischen Darstellung.

Der türkische Staat versuchte, ein Kriegsverbrechen seiner Streitkräfte zu vertuschen, indem die Leichen der Opfer verbrannt und die Kellerräume zerstört wurden.

Dabei hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags darauf hingewiesen, dass solche Operationen der Türkei in den Nachbarländern völkerrechtswidrig sind. Auch bleiben etwa Misshandlungen und Tötungen von Zivilisten und Zivilistinnen durch türkische Truppen oftmals unbeachtet. Die türkische Armee hat in den vergangenen Monaten Luftangriffe auf die Region Şingal (arabisch: Sinjar) in Nordirak unternommen und dabei immer wieder auch Yeziden und Yezidinnen getötet. Die Türkei bombardierte unter anderem ein Flüchtlingscamp in Mexmûr (arabisch: Makhmur). Diese Angriffe auf Überlebende des Genozids von 2014, den der »Islamische Staat« an den Yeziden und Yezidinnen verübte, hätten zu einem öffentlichen Skandal führen müssen.

Das schon damals eingeschränkte mediale Interesse während des türkischen Angriffskriegs gegen das nordsyrische Afrin 2018 ist längst erloschen. Inzwischen werden die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen in Afrin und anderen nordsyrischen Gebieten unter türkischer Kontrolle hauptsächlich von islamistischen Milizen verübt, die die Türkei dort einsetzt. Ein Menschenrechtsbericht des US-Außenministeriums von 2021 wirft diesen Milizen die Ermordung und das »Verschwindenlassen« von kurdischen und yezidischen Zivilisten und Zivilistinnen, unrechtmäßige Inhaftierungen und Folterungen, sexualisierte Gewalt, Vertreibungen, Plünderungen und die Zerstörung von Eigentum von Zivilisten und Zivilistinnen sowie von religiösen Einrichtungen vor. Über die unrechtmäßigen Inhaftierungen der Zivilisten und Zivilistinnen und die Folterungen berichtet auch die Jerusalem Post.

Die Türkei ist auch für zahlreiche Verbrechen im Krieg in den inländischen kurdischen Gebieten verantwortlich. Ein Beispiel mag reichen, um deutlich zu machen, was in diesem Krieg immer wieder geschehen kann, ohne dass die Türkei international geächtet würde oder überhaupt außenpolitische Konsequenzen befürchten müsste: Im Februar 2016 ereignete sich ein Massaker in der kurdischen Stadt Cizre, bei dem türkische Truppen mindestens 177 Menschen töteten.

Cizre war zuvor bereits vielfach Ziel von Angriffen der türkischen Armee geworden, so dass die Stadt Ende 2015 weitgehend zerstört war. Bei einem ­erneuten Angriff flohen Zivilisten und Zivilistinnen, darunter auch viele Verletzte, in Kellerräume. Versuche von Menschenrechtsorganisationen, sie zu retten, unterbanden die türkische Armee und Polizei gewaltsam. Auch Aufrufe von internationalen NGOs wie Human Rights Watch konnten die Türkei nicht dazu bewegen, diese Menschen zu evakuieren.

Anfang Februar 2016 meldete dann die türkische Armee, dass sie in Cizre Kellerräume gestürmt und dort Dutzende »PKK-Terroristen« getötet habe. Nach kurzer Zeit bestätigten sich die schlimmsten Annahmen: In den gestürmten Kellerräumen hatten sich vor allem Zivilisten und Zivilistinnen aufgehalten, die bis zuletzt auf eine Rettung gehofft hatten. Der türkische Staat versuchte, dieses Kriegsverbrechen zu vertuschen, indem die Leichen der Opfer verbrannt und die Kellerräume zerstört wurden. Inzwischen haben die türkische Menschenrechtsorganisation Mazlumder und die Menschenrechtsstiftung der Türkei diese Taten allerdings einigermaßen sicher rekonstruieren können, so dass man von mindestens 177 Opfern ausgehen muss, die fast ausschließlich Zivilisten und Zivilistinnen waren.

Die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen in Cizre sind auch deswegen erwähnenswert, weil im Juni 2016 zahlreiche Anwälte und Anwältinnen diesbezüglich eine gemeinsame Strafanzeige bei der deutschen Bundesanwaltschaft gegen die türkische Regierung und die verantwortlichen Militärkommandeure gestellt haben. Die Bundesanwaltschaft hat bis heute die Strafanzeige nicht bearbeitet und keine Ermittlungen aufgenommen. Es ist mehr als auffällig, wie stark sich die Reaktionen der Bundesanwaltschaft auf die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine von denen auf die türkischen Kriegsverbrechen unterscheiden. Wegen mutmaßlicher russischer Kriegsverbrechen unter anderem in Butscha hat sie bereits Ermittlungen eingeleitet.

Nun könnte man das unterschiedliche Maß, das Deutschland bei kriegführenden Autokraten anlegt, dazu nutzen, dem Westen Heuchelei vorzuwerfen und die Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen des Nato-Staats Türkei in Cizre, Afrin und anderswo dazu heranziehen, um die russischen Verbrechen in Butscha oder Mariupol zu relativieren und kleinzureden. Sicherlich könnte man es sich so in einer moralisch indifferenten Position ­bequem machen: Man müsste sich nicht damit befassen, wie adäquate Antworten auf Angriffskriege, Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen aussehen könnten.

Allerdings könnte kaum etwas unangemessener sein als diese Indifferenz. Es gilt, wie von Jörn Schulz eingefordert, die konkrete Politik von Staaten, einschließlich der westlichen, danach zu bewerten, ob sie dazu beiträgt, das Leid der Menschen zu vergrößern oder zu verkleinern. Danach, ob sie Angriffskriege betreiben, unterstützen, dulden oder eher den Opfern beistehen und Kriege beenden wollen. Danach, ob sie für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, diese möglich machen, dulden oder versuchen, diese Taten zu verhindern, die Täter und Täterinnen zu bestrafen und die Opfer zu unterstützen. Danach, ob sie Demokratie und Pluralismus sowohl im eigenen Land als auch außerhalb der eigenen Grenzen stärken und ausweiten oder eine Autokratie errichten und anderswo antidemokratische Kräfte stärken. Im Kern geht es darum, sich aus einer linken und emanzipatorischen Perspektive die politische und gesellschaftliche Realität anzuschauen und das Blockdenken ­abzulegen, das bis heute viele linke Debatten prägt.

Mit einem solchen Zugang lässt sich auch erkennen, dass – während im Fall der türkischen Angriffskriege die westlichen Staaten, allen voran Deutschland, Teil des Problems sind – es beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine unmittelbar darum gehen sollte, die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die russische Truppen verübt haben und mutmaßlich noch verüben, zu unterbinden. Eine wie auch immer demokratische und friedliche Entwicklung in der Ukraine ist ohne ein Ende des russischen Angriffskriegs nicht möglich. Dazu könnten und sollten westliche Staaten einen Beitrag leisten.

Sollte man deswegen vergessen, was in Cizre, Afrin und anderswo passiert ist? Natürlich nicht. Sollte man die Forderungen aufgeben, dass die Angriffskriege der Türkei beendet werden, ihre Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen geahndet werden müssen und die westlichen Staaten das türkische Regime nicht länger unterstützen sollten? Natürlich ebenfalls nicht.