Der Philosoph Karl Heinz Haag ist heute weitgehend vergessen

Zufall und Natur

Wie kein anderer Theoretiker der Frankfurter Schule ließ sich Karl Heinz Haag auf eine an den Naturgesetzen orientierte Wissenschaft ein. Am Ende seiner Überlegungen aber steht die Theologie.

Die Ausfallstraße im Frankfurter Stadtteil Höchst, in der Karl Heinz Haag sein Leben lang wohnte, gehört nicht gerade zu den schönsten Ecken der Stadt. In der Nachbarschaft lebten zumeist ehemalige »Rotfabriker«; die Bezeichnung spielt auf einen chemischen Herstellungsprozess an. Die Farbwerke Hoechst sind längst abgewickelt und die Frankfurter Schule ist es auch. Karl Heinz Haag, 1924 in Höchst am Main geboren, 2011 in Wiesbaden gestorben, hätte sie, so stellte es sich Max Horkheimer vor, fortführen sollen. Von Haag erwartete er sich eine metaphysische Grundlegung der Kritischen Theorie. Horkheimer hoffte sogar, er werde Theodor W. Adorno auf dessen Lehrstuhl nachfolgen. Doch es kam anders. Haag zog sich aus der Universität zurück, um sich ganz der philosophischen Forschung zu widmen. Seine Schriften werden heutzutage kaum noch gelesen, sein Name scheint vergessen.

Im vergangenen Jahr hat nun das Archivzentrum der Frankfurter Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg aus Anlass des zehnten Todestags Haags Nachlass erhalten. Dazu gehören bisher unveröffentlichte Korre­spondenzen mit Max Horkheimer und Jürgen Habermas, frühe Studienunterlagen und Typoskripte. Eine Vortragsreihe dazu ist in Planung.

Die Selbstgenügsamkeit innerakademischer Debatten ist Haags Sache nicht. Er zielt auf eine Veränderung der Gesellschaft und zeigt, wie sehr eine als wesenlos ausgegebene Natur Passform aufweist für eine Ökonomie, die diese Natur – sei es als äußere oder als menschliche – als bloßen Rohstoff der Kapital­verwertung ausgibt.

Wer war dieser Mann, der bei den Jesuiten in Frankfurt Philosophie und Theologie studierte, den Horkheimer an sein Institut holte und der von den Linken an der Universität als Lehrer hochgeschätzt war? Bei Haag trauten sich Studenten, auch mal nachzufragen, was sie bei den Patriarchen nicht allzu oft wagten. Sein ererbtes elterliches Haus in Höchst sicherte Haag mit wenigen Mieteinnahmen sein bescheidenes Auskommen. Für den Fall, dass er einmal in Not geriete, bot ihm der damals bereits hochbetagte Horkheimer finanzielle Hilfe an. Haag machte von diesem Angebot keinen Gebrauch. Ein am Rand des Existenzminiums geführtes Leben war der Preis für sein Werk.

Eine in der Philosophiegeschichte verhandelte Streitfrage führt zum Zentrum seines Denkens: Wenn es zur Herstellung roter Farbe keine Krapppflanze mehr braucht, weil die Farbsegmente sich synthetisch herstellen lassen, ist es dann mit Kants »Ding an sich« vorbei? Was nach ­einer Spezialfrage klingt, ist bei Haag von großer Bedeutung. Denn daran hängt für ihn der Herrschaftsanspruch der Gesellschaft über die Natur. Haag hat sich auf die Logik ­Naturgesetze formulierender Wissenschaften eingelassen wie kein anderer Theoretiker der Frankfurter Schule. Naturgesetze setzen Haag zufolge einen metaphysischen Rahmen als Bedingung ihrer Möglichkeit voraus. Haag schreibt gleichsam von innen heraus, nicht wie ein Blinder, der über die Farbe spricht.

Er argumentierte etwa so: An der Entstehung einer Pflanze, des Färberkrapps beispielsweise, sind viele Naturprozesse beteiligt. Jedes der beteiligten Naturgesetze erklärt einen Teilprozess und lässt sich durch ein Experiment bestätigen. Alle Einzelprozesse müssen zweckmäßig zusammenwirken, damit ein Naturding entsteht. Das zweckmäßig anordnende Prinzip lässt sich nicht selbst als ein Naturgesetz fixieren und per Experiment demonstrieren. Es gehört einer physikalisch nicht zugänglichen Dimension der Natur an. Von dieser Dimension kann die Metaphysik nur sagen, sie sei zwar empirisch nicht fassbar, aber Natur ohne sie zu denken, sei unvernünftig, ­irrational. Kant, auf den sich Haag hier bezieht, hat diese Schicht das Ding an sich genannt. Haag nennt sie das »metaphysische Fundament des Zusammenhangs von Mittel und Zweck«. Naturwissenschaften könnten keine Gesetz­mäßigkeit fixieren, wenn ihre Gegenstände ungeordnet wären. Wäre die Natur nur ein Chaos zerstreuter Einzeldinge, ließen sich keine experimentell beweisbaren Aussagen treffen. Die Genese einer Pflanze ver­liefe einmal so, einmal anders. Naturgesetze, die identische Abläufe für denselben Art- und Gattungszusammenhang formulieren, wären unmöglich.

Die Natur lässt sich begrifflich klassifizieren, beispielsweise anhand des Gattungsbegriffs Pflanze (unbewegliche, Photosynthese betreibende Lebewesen). »Die Pflanze« lässt sich nicht schmecken, riechen, ertasten und sehen, wie ehemals der Krapp in den Weinbergen der Vorderpfalz. Aber das Wort kann nicht nur ein subjektives Zeichen sein. In den Einzeldingen, auf der Objektseite, gibt es etwas, das das Ordnen in Gattung und Art erlaubt und woran menschliche Erkenntnis und Sprache sich halten können. Die Einzeldinge partizipieren, so Haag unter Verwendung des klassischen Begriffs, an ihrem Wesen.

Weiter fragt Haag: Kann etwas Sein beanspruchen, dem alle sinnlichen Qualitäten abgehen? Keinesfalls, sagt eine die Naturwissenschaften zur Philosophie aufspreizende Theorie, und der Alltagsverstand stimmt ihr wohl zu. Nur was per Experiment, Beobachtung und Falsifizierung, mit den üblichen naturwissenschaftlichen Verfahren also, dingfest zu machen ist, gilt als real. Haag hält dagegen: Schon Sprache wäre auf der Basis von Einzeldingen gar nicht möglich. Diese selbst weisen eine Ordnung auf.

Was als längst abgetanes Problem der spätmittelalterlichen Philosophie gilt, taucht, weil unerledigt, bei Haag wieder auf. Wahr ist nicht nur das in wissenschaftlichen Aussagen Fassbare. Natur ist nicht identisch mit dem, was wissenschaftliche Forschung über sie ausmacht. Die ­Naturgesetze, die erklären, wie Photosynthese funktioniert, bringen die Pflanze nicht hervor. Die wissenschaftliche Methode erschließt mit ihren Experimenten nicht, was die Natur in ihren Schaffensakten leitet. Auch die Gentechnologie ändert daran nichts. Sie reproduziert, was sie vorfindet, sie produziert es nicht. Der Eingriff in die menschliche Keimbahn setzt den lebenden Menschen voraus. Wird menschliche Natur wie alle Natur aber als wesenlos gedacht, ist ihrer Verfügbarkeit keine Grenze gesetzt.

Worin jedes Naturding sein Wesen hat, das es seiner Art und Gattung zuordnet und zugleich als Individuelles entstehen lässt, bleibt menschlicher Erkenntnis verschlossen. Haags Metaphysik ist eine negative, sie wiederbelebt nicht die sich von Platon fortschreibende Ontologie. Deren Grundirrtum sieht er darin, die empirische Welt als aus einer Hierarchie der Ideen hervorgegangen aufzufassen. Was sich dem abstrahierenden menschlichen Verstand verdankt, gilt idealistischer Philosophie als das Wesen der Einzeldinge. Der nur noch in Vorderasien vorkommende Krapp ist aber kein Schatten einer Idee.

Die Selbstgenügsamkeit innerakademischer Debatten ist Haags Sache nicht. Er zielt auf eine Veränderung der Gesellschaft und zeigt, wie sehr eine als wesenlos ausgegebene Natur Passform aufweist für eine Ökonomie, die diese Natur – sei es als äußere oder als menschliche – als bloßen Rohstoff der Kapitalverwertung ausgibt. Natur sei zur »Brandschatzung« freigegeben. Sie als wesenhaft zu begreifen, sei »von höchster Wichtigkeit nicht nur für das Schicksal der Philosophie, sondern hat intensivste Bedeutung (…) für das Schicksal der Menschheit«.

Haag zufolge bieten Naturwissenschaften eine relative Erkenntnis ihres Gegenstands, keine absolute. Die Natur an sich lässt sich nicht positiv bestimmen. Nachmetaphysisches Denken folgert: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Haag zieht daraus einen theologischen Schluss. Dieser mag der Grund dafür gewesen sein, dass seine beiden Bücher kaum mehr ­rezipiert wurden. Theologie gilt, so Walter Benjamin, als hässlicher Zwerg, der sich nicht blicken lassen darf. Man könnte auch sagen, die Sache riecht schlecht. Gott hängt das Attribut des Teufels an, der bekanntlich am Schwefelgeruch zu erkennen ist.

Haag hat da keine Berührungsängste. Er behauptet nicht weniger, als »dass es einen Gott gibt. Diese Gewissheit ist erreichbar – in logischer Strenge.« Das Prinzip, das die nach ihren Gesetzmäßigkeiten verlaufenden Naturprozesse so organisiert, dass jeweils ein zweckmäßiges Naturgebilde entsteht und in ihrem Zusammenwirken ein geordnetes Universum, kann, so Haag, nur ein allmächtiges sein. Als logische Alternative zu einem solchen determinierenden Prinzip bleibt nur der Zufall. Sich auf rein physikalisch Fassbares bei der Naturauffassung zu beschränken, spricht dem Zufall eine unglaubliche Bedeutung zu. Er nimmt dann gleichsam die Stelle Gottes ein.