Ein Gespräch mit Juliane Nagel (»Die Linke«) über die Krise in ihrer Partei

»Junge Parteimitglieder sind die Zukunftsträger«

Juliane Nagel (»Die Linke«) fordert im Gespräch mit der »Jungle World« eine personelle Neuaufstellung der Bundestagsfraktion der Linkspartei.
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Wie stellt sich die derzeitige Krise der Partei »Die Linke« von innen dar?

Für mich war nach der Bundestagswahl im September und der Besetzung der Bundestagsfraktion klar, dass die Linkspartei die nächsten vier Jahre so nicht überlebt. Die derzeitigen Themen Ukraine-Krieg und Sexismus haben die ­bestehenden Probleme noch potenziert. Bestimmte Akteure der Partei schießen gegen die Entwicklung von zeitgemäßen Positionen. Es wird ­stoisch auf Grundsätzen beharrt, dabei hat das Parteiprogramm auf viele Fragen keine Antworten.

Um welche zeitgemäßen Positionen geht es da?

Der alte Konflikt besteht in der Frage, ob die Linkspartei »Identitätskonflikte« in den Vordergrund stellen soll oder ökonomische Verteilungsfragen. Wortgewaltige Akteure der Partei diffamieren unsere Beteiligung an Bündnissen gegen Rassismus oder die Unterstützung von Geflüchteten als reine Identitätsdebatten. Dabei müsste eine linke Partei diese Fragen verbinden. Und dann noch die große Frage: Wie verhalten wir uns zum Ukraine-Krieg? Hier in Ostdeutschland hat das alte Blockdenken besondere Tradition. Aber wir haben jahrelang die innenpolitische Situation in Russland kaum beachtet und uns nicht gefragt, ob die Partei »Die Linke« sich mit einem Russland verbunden fühlen kann, das anti­demokratisch und kapitalistisch ist, Minderheiten und Meinungsfreiheit unterdrückt.

»Wir brauchen einen Prozess, der zu einer progressiven linken Partei führt, die neue Fragen neu beantwortet.«

Im Januar war ich mit Katharina König-Preuss (Landtagsabgeordnete der Linkspartei in Thüringen, Anm. d. Red.) und anderen Kolleginnen in Polen. Dort wurde uns von Linken beschrieben, dass sich die Distanz zur deutschen Linkspartei vergrößert – wegen der prorussischen Position wortgewaltiger Protagonisten. So werden notwendige europaweite Allianzen mit progressiven Linken verhindert. Das dürfen wir nicht länger zulassen. Wir müssen als Partei beginnen, auf die Verbündeten in den anderen, vor allem osteuropäischen, Ländern zu hören, statt ihnen die Welt zu erklären.

Das Konzept der Partei »Die Linke« ist das eines Sammelbeckens für alle, die sich als links verstehen. Ist dieser Anspruch noch realistisch?

Es zeigt sich, dass es nicht reicht, ein Sammelbecken für die verschiedenen Bewegungen sein zu wollen, nicht alles ist miteinander vereinbar. Auch hat sich die Mitgliederschaft in den vergangenen Jahren enorm verändert: 20 000 Menschen sind neu eingetreten, demgegenüber sind im gleichen Zeitraum 19 500 ausgetreten und 14 500 weitere sind gestorben. An so einem Punkt muss man als Partei, die den Anspruch hat, als Dach für linke, soziale Bewegungen zu fungieren, seine Strukturen überprüfen.

Wie könnten Lösungen für dieses Problem aussehen?

Das Sexismusproblem rührt unter ­anderem daher, dass verschiedene ­politische Kulturen aufeinanderprallen und Probleme anders gewichtet werden. Hier brauchen wir konkret Satzungsänderungen und Ansprechbarkeiten. Die jungen Parteimitglieder sind die Zukunftsträger. Sie müssen sich wohlfühlen und bleiben wollen. Dafür braucht es eine andere politische ­Kultur, sie müssen mit ihren Themen ernst genommen werden. Wenn das nicht funktioniert, muss man sich im Notfall von Leuten trennen, die im Kopf nicht links und progressiv sind, sondern traditionalistisch; die zwar immer das Parteibuch hatten, aber nicht mehr Motor einer modernen, linken Partei sein wollen. Im Zweifelsfall muss man jüngeren Menschen den Vortritt lassen. Wir brauchen einen Prozess, der zu einer progressiven linken Partei führt, die neue Fragen neu beantwortet.

Welche gesellschaftliche Funktion sollte die Linkspartei erfüllen?

Ich bin traditionell eine Kritikerin von Parteien und will langfristig über eine repräsentative Demokratie hinaus. Pragmatischer und kurzfristiger gedacht, besteht eine gesellschaftliche Funktion der Linkspartei darin, soziale Probleme anzusprechen, die Belange von Bewegungen in Parlamente und die Öffentlichkeit zu tragen, dort ­verbindend zu wirken und Ressourcen, die man generiert, in die Bewegungen zurückzu­geben, aber auch – hier hat sich meine Meinung in vergangenen Jahren ge­ändert – Verantwortung zu übernehmen. Solange es die parlamentarische Demokratie gibt, möchten wir auch in Regierungen mitgestalten und unsere Inhalte einbringen.

Dann braucht es konkret umsetzbare Projekte, mit denen man in Regierungsverhandlungen geht. Diese sollten auch nicht zur Disposition gestellt werden. Das kann kein Nato-Austritt sein, aber vielleicht Instrumente für ­zivile Konfliktlösungen und solche, um Mieten zu senken oder Löhne zu er­höhen. Mir fehlt es manchmal an mutigen Vorstößen in der Linkspartei. Man sollte versuchen, wirkliche Verbesserungen herbeizuführen und ­dabei an vermeintlichen Grenzen zu rütteln, das fände ich für eine radikal­reformerische Perspektive wichtig. Beispiele dafür sind der Mietendeckel oder die Vergesellschaftungsinitiative in Berlin.

Die ehemalige Bundestagsabgeordnete Helin Evrim Sommer trat Anfang Mai aus der Linkspartei aus, sie schrieb dazu: »Ich bin überzeugt, dass ›Die Linke‹ nicht mehr in der Lage ist, sich fundamental zu er­neuern.« Was halten Sie von dieser Einschätzung?

Ich habe Momente, in denen ich auch so denke. Wenn Sahra Wagenknecht sich zu Wort meldet oder bestimmte Abgeordnete aus der Bundestagsfrak­tion zum Beispiel. Doch dann denke ich auch an die vielen Neuen in der Partei oder solche, die allein sind, aber noch immer an Veränderungen glauben. Wenn man jetzt klug agiert, die relevanten Fragen klärt und sich von bestimmten Personen trennt, dann sollte es möglich sein, die Phase des Niedergangs zu beenden und die Entwicklung umzukehren.

Für wie relevant halten Sie es, dass der Fraktionsstatus im Bundestag, für den es mindestens fünf Prozent aller Abgeordneten braucht bis zur nächsten Bundestagswahl in drei Jahren unbedingt erhalten bleiben soll?

Ich würde den Erhalt der Bundestagsfraktion jedenfalls nicht über den ­Erhalt der Partei stellen. Wenn man sich nicht mehr alle zwei Wochen mit ­irgendwelchen reaktionären Aussagen wortgewaltiger Akteure beschäftigen will, dann muss man vielleicht auch den Fraktionsstatus zur Disposition stellen. Ich weiß, was davon abhängt, von Ressourcen bis hin zu Arbeitsplätzen, aber eine Bundestagsfraktion zu haben, die ein Hort von Querschlägern in der Meinungsbildung ist, ist schlimmer, als keine Bundestagsfraktion zu haben.

Welche Hoffnungen verbinden Sie mit dem Parteitag Ende Juni in ­Erfurt?

Dass eine Kurskorrektur in der Außenpolitik stattfindet, zumindest in Hinblick auf Russland. Da bin ich zuversichtlich. Ich glaube aber nicht, dass die Linkspartei Waffenlieferungen prinzi­piell befürworten wird – oder sollte. Eine sozialökologische Transformation und der Klimawandel werden Themen sein sowie die innerparteilichen Strukturen. Ich kann mir vorstellen, dass da gute Beschlüsse gefällt werden. Die Frage ist, ob die Zeit vor dem Parteitag dazu genutzt wird, an der Basis eine Meinungsbildung voranzutreiben. Ein Parteitag ist vor allem eine Ansammlung von Funktionären, aber die Positionen müssen von der Basis mitgetragen werden. Mit dem Parteitag wird es also nicht getan sein. Es dürfte auch diskutiert werden, ob die Bundestagsfraktion sich neu aufstellen muss. Ich bin dafür.

Wie viel Zeit bleibt der Linkspartei über den Parteitag hinaus noch, um sich neu zu formieren?

Ein wichtiger Marker wird die Wahl in Thüringen in zwei Jahren sein, aber ich denke, man muss schon in diesem Jahr handeln, wenn man das Ruder noch herumreißen will. Wir brauchen eine personelle Erneuerung an der Parteispitze und eine klare Außenkommunikation. Auch bessere Ergebnisse bei Wahlen zu erzielen, gehört dazu, um sich dann auf das Wesentliche zu konzentrieren: auf die Politik, die man macht, auf die Rolle, die man als Oppositionsfraktion im Bundestag hat. Dort braucht es ein soziales, demokratiepolitisches Korrektiv. Das sind die Aufgaben, die anstehen, und zwar jetzt – nicht in drei Jahren.

Im September soll in der Partei ein Mitgliederentscheid zur Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen stattfinden. Man kann das von links, aber auch aus einer traditionalistischen Gewerkschaftssicht kritisieren. Wir hatten teilweise Konferenzen, auf denen alte Gewerkschafter mit ihrem Austritt gedroht haben, wenn der Entscheid positiv ausgeht. Was ist das für eine Diskussionskultur: zu drohen, statt sich auf eine Diskussion einzulassen?

Was müsste passieren, damit Sie aus der Linkspartei austreten?

Ich bin eher ein treues Parteimitglied, aber ich habe mich in den vergangenen Jahren oft gefragt, wie lange rechtsgerichtete Aussagen und eine reaktionäre Außenpolitik der Bundestagsfraktion noch aushaltbar sind. Wenn die Linkspartei sich weiter von Querfrontlern treiben lässt und zulässt, dass diese Akteure verantwortliche Positionen in der Bundestagsfraktion oder in den Landesverbänden einnehmen, dann ist bei mir auch irgendwann Schluss.

 

Juliane Nagel
Foto: DIE LINKE. Sachsen

 

Juliane Nagel ist seit 2014 Landtagsabgeordnete für die Partei »Die Linke« in Sachsen. Sie ist Mitgründerin des Projektbüros Linxxnet im Leipziger Stadtteil Connewitz und wurde 2013 für ihr Engagement gegen Neonazismus und Diskriminierung mit dem Leipziger Friedenspreis ausgezeichnet.