Kurt Vile erzählt auf dem Album »Watch My Moves« vom Unterwegssein und Touren

Von Herzen weltvergessen

Auf seinem neunten Soloalbum gibt sich Kurt Vile dem Folk hin. Er erzählt zwischen Selbstreferenzen und ­Selbstvergessenheit von den harten Seiten des Lebens – und wirkt dabei so, als könne er diesen problemlos trotzen.

Ein perfekter Soundtrack für den Frühling: Im Schaukelstuhl auf der Veranda oder dem Balkon mit dem wohlverdienten ersten Kaffee sitzend, die Sonne vertreibt die morgendliche Kälte, ein paar Singvögel schauen vorbei und sagen hallo, ob Zilpzalp, Girlitz oder die Mönchsgrasmücke, frisch zurückgekehrt aus dem Süden. Und man sitzt und schaukelt sanft im rocking chair, genau genommen folk-rocking, mit dem neuen Album von Kurt Vile im Ohr: »Watch My Moves« heißt es, der Titel ist auf dem Plattencover kleingeschrieben und in Klammern gesetzt, als ob die unaufdringlichen, der Zeit entrückten Songs darauf sich noch ein Stück weiter zurücknehmen wollten.

Während die Lieder einen tiefenentspannten Eindruck hinterlassen, singt Kurt Vile auf seinem neunten Soloalbum tatsächlich, wie im Titel angedeutet, von bewegten Tagen: vom Unterwegssein, vom Touren, vom Losfahren, vom Heimkommen und vom Reisen. Im ersten Stück »Goin on a Plane Today« beschreibt Vile, minimalistisch und untypisch begleitet von ein paar simplen Klavierakkorden und gelegentlich hinzustoßenden feierlich-verträumten Bläsersätzen, wie er sich auf den Weg zum Flughafen begibt, um als Vorgruppe für sein Idol Neil Young zu spielen.

Vile versammelt auf der neuen Doppel-LP eine ganze Reihe befreundeter Gastmusikerinnen wie Cate Le Bon, Stella Mozgawa (von der Band Warpaint) oder die Mitglieder der Noisepop-Gruppe Chastity Belt.

Eine gute Gelegenheit für ihn, über das Älterwerden und dessen surreale Qualitäten nachzudenken: »Manhood compromised / Watch me shrinkin back into a little kid / Just as I’m just gettin old«. Denn plötzlich fühlt sich der 42jährige Vile wie in einem Traum aus seiner Jugend. »Listenin to ›Heart of Gold‹ / Gonna open up for Neil Young / Man, life can sure be fun / Imagine if I knew this when I was young«. Die Songtexte changieren durchgängig zwischen Selbstreferenzialität und Selbstvergessenheit.

Als einen Grund dafür, dass er für das neue Album zur renommierten Plattenfirma Verve Records gewechselt ist, gab Vile seine Leidenschaft für The Velvet Underground (sowie für John und Alice Coltrane) an, die ebenfalls auf dem eigentlich vorrangig jazzorientierten Label veröffentlicht haben. Für das Tribute-Album »I’ll Be Your Mirror«, das im vergangenen Herbst ebenso wie Todd Haynes’ Filmdokumentation über die New Yorker Band erschien, interpretierte Kurt Vile deren Song »Run Run Run« in einer epischen Länge von fast sieben Minuten.

Von Lou Reed übernimmt er für seinen erzählerischen Gesang aber eher das Lässige als die Dringlichkeit. Daneben scheint Bob Dylans Singsang als Einfluss bisweilen in ­Viles Stimmeinsatz durch, musikalisch außerdem der Lo-Fi-Gestus, den während der neunziger Jahre ins­besondere die schluffigen Gitarrenbands des kleinen, unabhängigen US-Labels Drag City geprägt haben.

Auf »Watch My Moves« verneigt sich der sich der Musikgeschichte bewusste Singer/Songwriter aus Philadelphia zudem im Lied »Cool ­Water« vor den Country-Größen Hank Williams und den Sons of the Pioneers, die ehedem mit einem Stück gleichen Titels erfolgreich waren: »Cool Water / Just like Hank sang / (But a Son of a Pioneer wrote)«. Stilsicher kommt hier wie auch beim Titel »Mount Airy Hill (Way Gone)« die countryeske Slide-Gitarre mit ihren schillernden, von Ton zu Ton schwebenden Glissandos zum Einsatz, während Vile ansonsten vor allem mit Tremoloeffekten für einen verhuschten, immer ein wenig windschiefen Ausdruck seiner Musik sorgt, in der regelmäßig mit voller Absicht der Rhythmus verschleppt wird und eigentlich gar nicht so viel passiert. Refrains sind ohnehin eher die Ausnahme.

Damit hat er sich, zumindest was das Soundgewand der Songs anbelangt, in eine andere Richtung entwickelt als sein langjähriger Mitstreiter und Freund Adam Granduciel (bürgerlich: Adam Granofsky) mit dessen Band The War on Drugs, die Kurt Vile 2005 mitgründete. Während Vile auf deren Debüt »Wagonwheel Blues« von 2008 unter anderem noch als Lead-Gitarrist und Co-Songwriter mitwirkte, bevor er sich auf seine Solokarriere konzentrierte, spielte Granduciel bis 2011 in Viles Backing Band namens The Violators. Beiden gelang in dem Jahr zumindest beim Indie-Publikum der Durchbruch, Vile mit seinem vierten Album »Smoke Ring for My Halo«, The War on Drugs mit ihrem zweiten Longplayer »Slave Ambient«, bei dem Vile immerhin noch an zwei Stücken beteiligt war.

Die jeweiligen Folgealben fanden dann eine größere Anhängerschaft und markierten zudem deutlich die verschiedenen Wege, die Vile und Granduciel ausgehend vom psychedelischen Indierock einschlugen. The War on Drugs wurden immer öfter mit dem stadiontauglichen Heartland Rock von Bruce Springsteen verglichen – während Granduciels Stimme kurioserweise eher an Bryan Adams erinnert –, und bei Kurt Vile trat der träumerische Slackerfolk noch stärker in den Vordergrund, zum Beispiel bei seinem fast zehnminütigen ersten richtigen Hit »Wakin on a Pretty Daze« von 2013.

Inzwischen haben sich The War on Drugs sogar zu einer veritablen Jachtrockgruppe entwickelt – tight wie eine vom Kokain berauschte Studioband aus den Achtzigern, inklusive des fast künstlich wirkenden Schlagzeugklangs –, aber ohne dass die Neopsych- und Shoegaze-Einflüsse komplett verloren gegangen wären, sie erscheinen nur stärker auf Hochglanz getrimmt. Besonders gut zu hören ist das auf Single »I Don’t Live Here Anymore« aus dem vergangenen Jahr, auf der Granduciel von den Sängerinnen der Band Lucius unterstützt wird.

Auf »Watch My Moves« findet sich mit »Like Exploding Stones« dagegen wieder ein herrlich ausschweifendes Folkrock-Epos von Vile, das als erste Single ausgekoppelt wurde und bei dem nicht nur die Violators mit Rob Laakso am Bass, Kyle Spence am Schlagzeug und Jesse Trbovich ausnahmsweise am Keyboard (sonst vor allem zweite Gitarre) mitwirkten, sondern überdies der Tenorsaxophonist James Stewart, seit 2011 Mitglied des Sun Ra Arkestra, der dar­über hinaus auch bei »Goin on a Plane Today« zu hören ist. Vile macht hier erneut deutlich, wie verpflichtet er sich der lokalen Musikszene Philadelphias fühlt, der Heimatstadt auch des Arkestras. Die Violators, mit ­denen der Singer/Songwriter im Spätsommer auf Europatournee gehen wird, sind lediglich an etwa der Hälfte der Studioaufnahmen für »Watch My Moves« beteiligt gewesen; so war es auch schon beim vorangegangenen Album »Bottle It In« von 2018.

Außerdem versammelt Vile auf der neuen Doppel-LP eine ganze Reihe befreundeter Gastmusikerinnen wie Cate Le Bon, Stella Mozgawa (von der Band Warpaint) oder die Mitglieder der Noisepop-Gruppe Chastity Belt. Mit »Wages of Sin« findet sich unter den Titeln sogar eine Coverversion, wobei Vile sich den 40 Jahre alten, kaum bekannten Studio-Outtake von Bruce Springsteen so sehr zu eigen macht und die ruhige, introspektive Ballade in einen derart flirrend-psychedelischen Jam ausufern lässt, dass man gar nicht auf die Idee käme, der Song stamme nicht aus seiner Feder. Und auch der Text, dessen Verse von einem Beziehungsstreit und Schuldgefühlen vermischt mit Kindheitserinnerungen und wiederkehrenden Ängsten handeln, könnte genauso gut aus Kurt Viles eigenen Gedankenströmen entsprungen sein.

Seine (Selbst-)Betrachtungen sind bei aller Leichtigkeit und laid-backness nicht frei von Zweifeln, Ängsten und psychischen Leiden, dennoch wirkt es bisweilen so, als gäbe es in der Welt des Musikers nichts Böses, keine Aggression, keine wirklich ernsthaften Sorgen. Zumindest keine, denen man ohnmächtig ausgeliefert wäre und die nicht mit einem guten Maß an Unernst und dem Vertrauen auf die eigenen Freundinnen und Freunde – nennen wir es Familie – gemeinsam auf Abstand gehalten werden könnten. Ist das ein wenig weltvergessen und realitätsfremd? Vielleicht, aber dieser Eskapismus sei jeder und jedem von Herzen ­gegönnt.

Kurt Vile: Watch My Moves (Verve Records)