Linke Intellektuelle fürchten den kommenden Techno-Feudalismus

Der Traum vom Hightech-Mittelalter

Derzeit konstatieren viele linke Intellektuelle die Ablösung des Kapitalismus durch den Technofeudalismus und versuchen so, die ökonomischen Strukturen zu beschreiben, die sich aus der Monopolisierung der digitalen Ökonomie ergeben. Das funktioniert nur als Metapher halbwegs.

Alle paar Jahrzehnte kommt die Debatte auf, ob man eigentlich noch im Kapi­talismus lebe. Auf dem Höhepunkt des Nachkriegswohlstands war viel davon zu hören, dass dank des interventionistischen Staats die Gesellschaftsmodelle von Ost und West sich einander annähern würden. Später erfreute sich die Vorstellung der sogenannten Informationsgesellschaft einiger Beliebtheit, welche die Fron und Mühsal der industriellen Produktion obsolet machen sollte.

So frohgemut blickt heutzutage kaum noch jemand in die Welt. Wenn derzeit wieder einmal vermehrt diskutiert wird, ob der Kapitalismus nicht vielleicht schon, ohne dass man es recht bemerkt hätte, still und heimlich verschieden sei, dann ist dabei nicht an eine glänzende Zukunft gedacht, sondern an die finstere Vergangenheit. Ob Traditionsmarxisten wie David Harvey oder die Postoperaisten um Toni Negri und Michael Hardt, der (inzwischen verstorbene) Anarchist David Graeber oder der Sozialrefomer Yanis Varoufakis, die Sozialwissenschaftlerin Shoshana Zuboff oder die Ökonomin Mariana Mazzucato: Zahlreiche Kritikerinnen diagnostizieren derzeit eine Refeudalisierung der Gesellschaft.

Der Reichtum der 0,1 Prozent beruhe nicht länger auf der produktiven Anwendung fremder Arbeitskraft, sondern auf dem gewaltsamen, das heißt ökonomisch unproduktiven Ausschluss der Vielen.

Gemeint ist damit im Wesentlichen, dass die kleine Schicht der Superreichen zusehends Raubrittern ähnlicher werde: dass sie sich ihren Reichtum, marxistisch gesprochen, nicht als Ausbeuter beschafft, sondern als Rentiers. Was Marx zufolge die Bourgeoisie von allen vorangegangenen herrschenden Klassen unterschied, war ja, dass sie sich das gesellschaftliche Mehrprodukt nicht, wie der Sklavenhalter oder der Lehnsherr, per Gewalt aneignet, sondern im freien und gleichen Tausch. Die Arbeiterinnen überlassen den Kapitalisten ihr schöpferisches Vermögen, die Arbeitskraft, und erhalten dafür im Austausch exakt das, was diese Ware wert ist, nämlich das, was es kostet, ­jenes Vermögen wiederherzustellen.

Damit, so die These, sei es inzwischen vorbei. Der Reichtum der 0,1 Prozent beruhe nicht länger auf der produktiven Anwendung fremder Arbeitskraft, sondern auf dem gewaltsamen, das heißt ökonomisch unproduktiven Ausschluss der Vielen: auf der künstlichen Verknappung von Gütern durch Patente und andere Besitztitel, auf der Ausschaltung von Konkurrenz in »vermachteten« Märkten, also Märkten, die Unternehmen gehören, wie es etwa bei Ebay oder Amazon der Fall ist, auf Staatsalimentierung oder auf Finanztransaktionen, die von Pyramidenspielen und anderen Betrugsmanövern kaum noch zu unterscheiden sind.

Das entbehrt nicht einer gewissen Plausibilität. Die Wachstumsraten in den kapitalistischen Metropolen sind seit den Siebzigern fast durchgehend schwach. Die Ausnahmen bilden der Finanzsektor und die digitale Ökonomie. Gerade die »Big Five« genannten Giganten der Tech- und Kommunika­tionsindustrie, Microsoft, Apple, Amazon, Alphabet (Google) und Meta (Facebook) – seit vielen Jahren die gemäß Börsennotierung wertvollsten Unternehmen der Welt – gelten daher häufig als Paradebeispiele des sogenannten Neofeudalismus.

Das hat in erster Linie mit dem zu tun, was häufig »Schnittstellen-« oder »Netz­werkeffekt« genannt wird. Der Gebrauchswert für Nutzer der von ­diesen Unternehmen angebotenen Produkte besteht in erster Linie darin, dass alle anderen sie auch nutzen. Wer mit alten Bekannten Kontakt halten, seine Dienste als Freiberufler anpreisen oder per Whatsapp-Gruppe auf dem Laufenden gehalten werden will, muss zu Facebook gehen; wer im Internet kaufen oder verkaufen will, zu Amazon; wer die bestjustierten Suchergebnisse möchte, sucht per Google, dessen Algorithmen die Daten von Milliarden und Abermilliarden vergangener Suchan­fragen inkorporiert. Dieser Effekt der von den »Big Five« angebotenen Dienste lässt sie, wie die Imperien der Eisenbahnbarone des 19. Jahrhunderts, nahezu naturwüchsig zum Monopol gravitieren. Wer auf den digitalen Plattformen, bei Amazon oder dem Apple-App-Store, verkauft, muss daher einen ordentlichen Obolus entrichten. Und wer sich als Produzent von »Content« abstrampelt, um im Newsfeed von Facebook oder im Youtube-Ranking möglichst weit nach oben zu kommen, muss erdulden, dass Meta und Google den Hauptanteil jener Werbeeinnahmen abschöpfen, mit denen sich früher einmal Presse, Funk und Fernsehen finanzierten.

Dass das Geschäftsmodell der Tech-Giganten naturwüchsig zum Monopol strebt, heißt freilich nicht, dass nicht mit Staatsgewalt nachgeholfen würde. Fast alle Innovationen, auf denen die digitale Ökonomie beruht, von der Halbleitertechnik bis zu Googles Such­algorithmen, sind an öffentlichen Institutionen entwickelt und von der öffentlichen Hand finanziert worden; nicht zuletzt das Internet selbst, das bekanntlich dem US-amerikanischen Vertei­digungsministerium entstammt. Die Zuckerbergs, Gates und Jobs’, die sich als moderne Daniel Düsentriebs inszenieren, sind im Grunde, nicht anders als russische Oligarchen oder saudische Ölscheichs auch, schlicht Privatisierungsgewinnler: Glücksritter, die zum richtigen Zeitpunkt Landnahme im virtuellen Raum betrieben haben und davon bis heute profitieren.

Als Glücksritter sind sie wiederum auf Gedeih und Verderb mit dem Finanzkapital verstrickt, dank dessen Krisentendenz und Launen sich über Nacht Milliarden in Luft auflösen können. Das musste Meta im Februar dieses Jahres schmerzlich erfahren. Die Verschmelzung von Finanzkapital und digitaler Ökonomie geht dabei weit über den bloßen Einsatz von Risikokapital hinaus, das ja bevorzugt in irgendwelchen Klitschen von schnittigen Tech-Bubis angelegt wird. Das Atlantik-Kabel, das Google unlängst verlegen ließ, holt bei Datenübertragungen einige zusätzliche Milli­sekunden heraus, die niemandem nutzen als den Investmentfirmen mit ihren vollautomatisierten Börsengeschäften.

»Technofeudalismus« ist für all das ein griffiges Bild und passt zu den neuen Herrschaftsfraktionen. Galten die Koryphäen des Silicon Valley bislang vor allem als unerträgliche Schlau­schnacker, die – für das Gute, gegen das Böse – für alles und jedes »innovative Lösungen« anzubieten haben, so tritt langsam ein anderer Typus hervor, eine neue quasiaristokratische Führungsschicht, die offen ihren Herrschaftsanspruch anmeldet. So finanziert Peter Thiel, Mitgründer von Paypal, seit geraumer Zeit »neoreaktionäre« Ideologen wie Curtis »Moldbug« Yarvin, welche die unmündigen Massen, und vor allem deren nichtweißen Segmente, von den Staatsgeschäften gleich ganz ausschließen möchten – und seit neuestem auch die politischen Kandidaten, die dieses Programm dann verwirklichen sollen. Robert Mercer, ein Investmentbanker, der sein Vermögen damit machte, Algorithmen zur Spracherkennung auf Börsendaten anzuwenden, um in diesen bislang übersehene Muster zu entdecken, gehörte zu den ersten finanziellen Groß­unterstützern von Donald Trump und dessen Chefideologen Steven Bannon. Kein Zufall, dass sowohl Mercer als auch Thiel neben Politikern auch Unsterblichkeitstechnologien finanzieren. Es ist die Mischung aus Größenwahn und Schicksalsverfallenheit, aus Gerissenheit und Wahn, die diese Gestalten von einem neuen, hochtechnisierten Mittelalter träumen lässt, in dem eine unvergängliche Ordnung besteht.

Aber reicht das schon, um mehr als bloß metaphorisch von einem neuen Feudalismus zu sprechen? Wahrscheinlich eher nicht. Zwar ist es schwer, die gigantischen Profite, welche die »Big Five« mit vergleichsweise wenigen Beschäftigten erzielen, werttheoretisch befriedigend zu begründen. Das gilt besonders für Unternehmen wie Twitter, Youtube oder Facebook, deren Produkte unentgeltlich von den Nutzern geschaffen werden, die dabei auch noch jene User-Profile liefern, die an die Werbetreibenden vermietet werden. So mag es verführerisch erscheinen, statt an Warentausch an Frondienste und Naturalabgaben zu denken.

Aber dass bestimmte Kapitalien eine größere Menge des gesellschaftlichen Mehrwerts auf sich ziehen können, wenn es ihnen gelingt, die Konkurrenzmechanismen außer Kraft zu setzen, hat schon Marx im dritten Band des »Kapitals« beschrieben: »Ein Surplus­profit kann außerdem entstehen, wenn gewisse Produktionssphären in der Lage sind, sich der Reduktion ihrer Profite auf den Durchschnittsprofit zu entziehen.« Marx verweist in diesem Zusammenhang auf die Grundrente; und gerne spricht man, wenn es um die digitale Ökonomie geht, in Analogie dazu von Monopol- oder gar Informationsrenten. Und das ist auch richtig so – solange man nicht vergisst, dass die Rente nicht im Gegensatz zum Kapitalismus steht, also nicht auf dessen Ende verweist, sondern, als »Kainsmal der ursprünglichen Akkumulation« (Hans-Georg Bensch), auf dessen Anfang: auf die vor- und außerökonomische Gewalt, die das Kapitalverhältnis erst konstituiert.