Ein Gespräch mit der Mathematikerin Helena Mihaljević über die Wahrheit von Zahlen

»Die Lücke zwischen Beweis und Wahrheit ist unüberwindbar«

Interview Von

Zwei plus zwei ist gleich vier – ist das die Wahrheit?

Meistens ja. Insbesondere wenn wir die Zahlen und Rechensymbole meinen, die wir in der Grundschule lernen. In der Mathematik wird allerdings viel abstrahiert und es werden oft dieselben Symbole für andere Objekte oder Operationen verwendet, die »strukturell« ähnlich zu denen sind, die wir bereits kennen. Ein Beispiel wäre, wenn ich mit »2« alle ganzen Zahlen meinte, die beim ganzzahligen Teilen durch drei den Rest zwei haben. Das wäre dann also die zwei selbst, aber auch fünf, acht, elf, -1 und so weiter. Dies wäre dann eine Restklasse und die 2 wäre eine Repräsentantin dieser Restklasse. In der Welt solcher Restklassen wäre 2 + 2 = 1.

Was ist der Unterschied zwischen wahr und bewiesen?

Mathematisches Wissen entsteht durch Deduktion. Dabei werden aus gewissen Grundannahmen, sogenannten Axiomen, mit Hilfe festgelegter Regeln neue Aussagen abgeleitet. Schafft man es auf diese Art und Weise, eine Aussage herzuleiten, so gilt sie als bewiesen. Ein gültiger Beweis garantiert zwar, dass die Aussage sich aus den Axiomen ableiten lässt, aber wie stellen wir fest, ob die Axiome selbst wahr sind? Mit dieser Frage betritt man eine komplexe wissenschaftsphilosophische Debatte, die insbesondere im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Selbstverständnis der Mathematik stark geprägt hat. Man könnte die Axiome einfach als evident annehmen und mit ihnen arbeiten. Dann ergeben sich aber je nach Wahl der Axiome unterschiedliche formale Systeme. So haben wir beispielsweise unterschiedliche Geometrien, und es gibt keinen befriedigenden Weg zu sagen, welche nun besser ist. Ein anderer Ansatz wäre, Axiome als wahr zu betrachten, sofern sie nicht zu Widersprüchen führen. In dieser Betrachtungsweise ist es völlig unproblematisch, beispielsweise verschiedene Geometrien zu haben, sofern sie in sich keine Widersprüche produzieren. Allerdings kann man sich vorstellen, dass es schwierig wird, die Widerspruchsfreiheit der Mathematik zu beweisen.

Der Einsatz von Computern wird vermutlich die Art und Weise, wie höhere Mathematik in vielleicht 40 Jahren unterrichtet wird, stark verändern.

Wer legt diese Axiome denn fest?

Die Mathematikerinnen und Mathematiker selbst. Die meisten von uns kennen vermutlich Axiome der Euklidischen Geometrie, die Euklid etwa 300 v. Chr. formuliert hat. Das sind Aussagen wie die, dass man von einem Punkt zu einem anderen eine Gerade ziehen kann, Aussagen also, die in der physikalischen Welt als offensichtlich wahr angesehen wurden.

Für die Mengenlehre, die sich mit Sammlungen mathematischer Objekte befasst und letztendlich das Fundament der gesamten Mathematik bildet, wurden einige Axiomensysteme entwickelt. Nach der Konstruktion verschiedener Paradoxa in der bis dahin verwendeten »naiven Mengenlehre«, wie das mit dem Barbier, der alle diejenigen rasiert, die sich nicht selbst rasieren, wurden Versuche zur Formalisierung der Mengenlehre unternommen.

Gibt es Aussagen, die sowohl bewiesen als auch widerlegt sind?

Je nach zugrunde liegendem logischen System, also der Menge an Axiomen und Ableitungsregeln, ist das möglich. Historische Beispiele sind Paradoxa wie das des Barbiers, das Bertrand Russell 1918 formuliert hat, was aber nur möglich war, da die naive Mengenlehre im Grunde alles, was als Sammlung von Objekten beschrieben werden kann, auch als Menge verwendet, somit auch die Menge aller Mengen oder die Menge aller Mengen, die sich selbst als Element enthalten. Die Formalisierung der bis dato existierenden Mengenlehre hatte tatsächlich auch keine nennenswerten Implikationen für bis dato bestehende mathematische Befunde. Allerdings ist es formal nicht möglich zu beweisen, dass Mathematik widerspruchsfrei ist, das folgt aus Kurt Gödels Unvollständigkeitssatz.

Was besagt dieser Unvollständigkeitssatz?

Gödels ursprünglicher Plan war, das von David Hilbert formulierte Problem, die Widerspruchsfreiheit der Arithmetik mit Hilfe »unverdächtiger« Methoden zu beweisen. Allerdings war das Ergebnis von Gödels Forschung letztendlich der Nachweis einer unüberwindbaren Lücke zwischen Beweis und Wahrheit. Mit seinen Unvollständigkeitssätzen hat er bewiesen, dass es in jedem axiomatischen System, das Grundlagen der Arithmetik umfasst (natürliche Zahlen addieren und multiplizieren) und widerspruchsfrei ist, wahre Aussagen gibt, die innerhalb des Systems nicht bewiesen werden können. Selbst wenn man diese Aussagen als Axiome zum System hinzufügen würde, könnten neue wahre Aussagen kreiert werden, die nicht beweisbar sind. Also, egal was man tut, there is no way out. Dieser Satz hat damals ziemlich eingeschlagen. Gödel hatte eine Methode gefunden, mit der die Mathematik über sich selbst sprechen konnte. Er hat alle Objekte und Aussagen in sogenannte Gödelnummern, eine Art Zahlencode, transformiert, und konnte Beweisbarkeit von Aussagen mathematisch ausdrücken. Letztendlich hat er es mit Hilfe selbstreferentieller Aussagen geschafft, die Unvollständigkeit zu beweisen. Einige Mathematikerinnen und Mathematiker hatten gehofft, dass der Einschlag der Unvollständigkeitssätze nicht ganz so schlimm sein würde, da sie vielleicht nur Spielereien beträfen. Das ist aber nicht so, und es gibt einige wichtige Theoreme, die innerhalb vernünftiger Axiomensysteme nicht beweisbar sind. Heutzutage wird sogar mit Computerprogrammen nach entsprechenden Aussagen gesucht.

Computer können inzwischen äußerst komplizierte Rechenaufgaben lösen und Beweise liefern, die Menschen allein nicht errechnen könnten. Wie verändert sich die Disziplin dadurch?

Der Einsatz von Computern hatte bereits enormen Einfluss und wird vermutlich die Art und Weise, wie höhere Mathematik in vielleicht 40 Jahren unterrichtet wird, stark verändern. Computer wurden bereits erfolgreich eingesetzt, um wichtige Aussagen zu beweisen, wie beispielsweise das Vier-Farben-Theorem. Es besagt, dass vier Farben ausreichen, um eine beliebige Karte einzufärben, ohne für zwei benachbarte Gebiete die gleiche Farbe zu benutzen. Es gibt etliche Theoreme, für welche bisher nur computergestützte Beweise existieren. Außerdem können Computerprogramme genutzt werden, um bestehende Mathematik zu formalisieren und daraus neue Aussagen und Theorien abzuleiten.

Zu Zeiten des Nationalsozialismus gab es auch in der Mathematik Spannungen zwischen Politik und Wissenschaft. Wie sah das aus?

Vertreter der sogenannten deutschen Mathematik, wie beispielsweise Ludwig Bieberbach, waren große Gegner des Formalismus. Bieberbach hatte in den dreißiger Jahren eine antisemitische Typisierung von »intellektuellen Charakteren« entwickelt, nach der sich beispielsweise der arische Typ durch Willen und Charakterstärke auszeichnet. Die Formalisten ordnete er dem Gegentyp des »schwachen« und »labilen« Charakters zu, da sie sich angeblich in Symbolzusammenhänge flüchten, statt sich mit realen Problemen und Anwendungen zu befassen. Bieberbach sah sich selbst als Vertreter des Intuitionismus.

Sein Antisemitismus begrenzte sich nicht auf Typisierung jüdischer und arischer Mathematik; er agitierte stark gegen jüdische Mathematiker, insbesondere gegen damalige Professoren der Universität Göttingen.

Kann Mathematik heute noch instrumentalisiert werden? Oder ist sie immun gegen Propaganda?

Immun ist sie sicher nicht, und verwendet wird sie in vielen essentiellen Bereichen. Ein Beispiel sind KI-Systeme, die auf komplexen mathematischen Formeln beruhen, die aus riesigen Mengen von Daten abgeleitet werden. Wir können sie nutzen, um Texte in Echtzeit von einer Sprache in eine andere zu übersetzen, oder aber auch für systematische Überwachung des öffentlichen Raumes oder für rassistische und sexistische Zuordnungen.

Warum sind Sie Mathematikerin geworden?

Ich mochte schon immer Rätsel, und die Mathematik ist voll davon. Einige davon können selbst Grundschulkinder verstehen. Die Goldbach-Vermutung zum Beispiel besagt, dass jede gerade Zahl größer als zwei sich als Summe zweier Primzahlen darstellen lässt. Sie ist bis heute noch unbewiesen – vielleicht sogar gar nicht beweisbar?