Identitätspolitik und die Frage nach der eigenen Verantwortung

Ich war’s nicht, die Struktur war’s!

Wo von ›wokeness‹ die Rede ist, wird von Interessen meist geschwiegen. Identitätspolitik entzieht sich dem Streit über die Wahrheit ebenso wie der eigenen Verantwortung. Denn an allem sind ihr zufolge »die Strukturen« schuld, nie man selbst.

Vor etwa 15 Jahren zerbröselte der Hamburger Literaturwissenschaftler und wissenschaftsorientierte Mäzen Jan Philipp Reemtsma eine Debatte über den sogenannten »freien Willen«. Diese war entbrannt, nachdem Neurobiologen konstatiert hatten, es gebe ihrer Forschung nach einen solchen nicht, alles sei – wenn ich mich recht an deren Argumente erinnere – synaptisch und anderweitig gehirnphysiologisch nachgerade vorbestimmt und vorhersehbar. Der Mensch bilde sich nur ein, einen freien Willen zu haben.

Reemtsma forderte, die Debatte zu beenden: Gut möglich, sagte er, dass der Glaube des Menschen an seine freie Willenskraft allzu selbstverliebt sei. Dennoch müsse man für das alltägliche Allerlei in hochkomplexen Gesellschaften feststellen: Selbst wenn es keinen freien Willen gäbe, müssten wir annehmen, er existiere. Denn sonst müsse man alle Regeln der Ethik und des Rechts, bei denen es um individuell zurechenbare Verantwortlichkeit geht, verwerfen – und das alltägliche Miteinander könnte nicht mehr funktionieren.

Selbst wenn es keinen freien Willen gäbe, müssten wir annehmen, er existiere.

Um den »freien Willen«, genauer um dessen Grenzen, geht es letztlich auch bei einer der ehernen Wahrheiten der Identitätspolitik: dass der Rassismus »strukturell« sei. Wobei die Gruppe, deren Benachteiligung strukturell sein soll, recht beliebig ausgetauscht werden kann; die These lässt sich etwa auch auf Behinderte, Frauen, LGBT-Personen, Roma und Sinti, Juden und Jüdinnen und andere anwenden. Natürlich lässt sich nicht bestreiten, dass es im Alltag, in Behörden, im Sicherheitsapparat, im Bildungssystem teils eklatante Fälle von Ungerechtigkeiten verschiedenster Art gegen Menschen gibt, die sich in schwächeren Positionen befinden; kurzum, dass Diskriminierung alltäglich sein kann. Dass diese aber »strukturell« sein soll, in dem Sinn, wie dieses Wort in der Linken zumeist gebraucht wird, nämlich dem »Kapitalismus« und dem »herrschenden System« immanent, ist falsch. Es hätte ja sonst keinen gesellschaftlichen Fortschritt geben können. Wer alles als »strukturell« vorbestimmt, als untilgbares Verhängnis ansieht – denn gegen Strukturen ist kein Ankommen, schon gar nicht aus »marginaler« Position –, will die facts of our life nicht zur Kenntnis nehmen.

Kurios ist, dass alle identitätspolitischen Publikationen der vergangenen Jahre genau dies als Apriori haben: dass Dies & Das & Alles strukturell sei. »Strukturell« sagen Menschen, die prinzipiell meinen, dass die bundesrepublikanische Justiz und Politik aus jeder Pore Rassismus, Homo- und Transphobie, Misogynie, Antisemitismus und so weiter ausstoßen. Wer die Welt so sieht, hat jedoch politisch schon verloren – Veränderung ist demzufolge unmöglich. Wenn die Macht der Strukturen so tief wurzelt, dass alles kontaminiert ist, bleibt nur Resignation oder die Vertagung jedweden Fortschritts bis zu einem imaginären Systemwechsel, es bleibt dann kein Raum für den Streit, den Konflikt, die Debatte oder reale politische Tätigkeit, etwa in Auseinandersetzung oder auch im Bündnis mit parlamentarischen Parteien, vor allem solchen, die gerade die Macht inne- und etwas zu melden haben.

Zahlreiche Autorinnen und Autoren des – vermeintlich – antirassistischen Aufbruchs, die es längst nach oben geschafft haben, opfern sich emsig durch ihre Texte und beklagen Strukturelles, sie jammern sich durch das Panorama der Wirklichkeit, ihrer Wirklichkeit oder was sie für eine halten. Sie werden in ihren Skizzen nie ganz konkret, bleiben im Allgemeinen, sie notieren Gefühle und bewegen sich im Raster von Empfindungen, von (Res-)Sentiments. Dabei sind sie selbst durch das durchaus verbesserungsbedürftige deutsche Bildungssystem gegangen. Sie haben immerhin so erfolgreich Karriere gemacht, dass sie in bundesdeutschen Mainstream-Medien veröffentlichen; aufmerksamkeitsökonomisch durchaus bei Topadressen. Von Ausgrenzung, von Vergeblichkeit ihres Tuns kann da keine Rede sein. In Wahrheit bewegen sie sich auf die Tröge der medialen Macht zu.

Um politisch überhaupt denk- und handlungsfähig zu werden, bedarf es des Abschieds von dem intellektuell bedürftigen Verlegenheitswörtchen »Struktur«. Die Wahrheit ist, vulgärleninistisch gesprochen, immer konkret, und zur Wahrhaftigkeit gehört, dass sich an der Wirklichkeit etwas ändern kann; es gehören reale Menschen dazu, die mehr verändern können und wollen als ihr eigenes Benehmen. Das woke Opfermodell aber verkauft sich gut, wie auch die Erzeugnisse der pädagogischen Publizistik, in der Autorinnen und Autoren ernsthaft behaupten, allen, die nicht PoC (oder BIPoC) sind, wohne der Rassismus natürlicherweise inne, sie seien kontaminiert wie eine Tschernobyl-Kreatur kurz nach der Reaktorhavarie, und sie trügen entsprechende Privilegien in sich. Was wohl der weiße Obdachlose dazu sagt oder die aus Osteuropa immigrierte weiße Frau, die als Leiharbeiterin in der Keksfabrik arbeitet?

Wahr an der Identitätspolitik ist, dass es prinzipiell gut ist, wenn nichtweiße Menschen bessere Zukunftschancen erhalten. Dass es etwa schon ein Fortschritt ist, wenn im Bundestag heutzutage Menschen aller möglichen Hauttönungen und sozialen Hintergründe vertreten sind. Solchen Fortschritt, der ja innerhalb der »Strukturen« möglich war, gilt es anzuerkennen. Deutschland heute ist eben nicht Deutschland 1935. Böse gefragt: Was würde der Führer zu unserem Bundestag sagen? Völkische und Nazis sind von der Machtübernahme so weit entfernt wie Alice Weidel vom Bundespräsidentinnenamt.

Zur Wahrheit der Identitätspolitik gehört auch, dass sie von der politischen Beobachtung lebt, die da sagt: Es ist nichts perfekt. Vieles muss verbessert werden, und zwar gründlich. Doch wer meint, die Strukturen stünden dabei leider im Weg, alles sei eine unentrinnbare Tragödie, verkennt die Möglichkeiten, die selbst sogenannte Gastarbeiter nicht erbaten, sondern sich nahmen.

Manuel Gogos, ein Sohn griechischer Immigranten in der Bundesrepublik, war tätig in der ku­ra­torischen Be­r­a­tung bei einer Ausstellung im Kölner Museum Ludwig zu seinem biographischen Generalthema: Das Leben von Immigrantinnen und Immigranten in Deutschland.

Seltsam war, dass auf den Schautafeln zu Recht alles Mögliche zum NSU-Terror zu finden war, zu Diskriminierung und eingeschränkten Lebensmöglichkeiten. Hörte man indes den Tonzeugnissen der Ausstellung zu, klang jedoch zugleich ganz anderes durch: Da erzählten Kinder und Enkel von »Gastarbeitern« von ihren Eltern und Großeltern, davon, wie sich diese ein gutes Leben zu ermöglichen suchten – und es sich auch zu nehmen vermochten. Sie nahmen das Leben in ihrer neuen Heimat als oft beschwerliche Aufgabe an – aber als lösbare. Dass schon die ersten Immigranten der Bundesrepublik für ihre Interessen in den Streik traten, bei den Ford-Werken in Köln etwa, gemeinsam mit urdeutschen Kollegen, konnte man ebenso in dieser Ausstellung erfahren.

In der Analyse dessen, was Identitätspolitik zu Recht zu Gehör bringt, ist zu viel Opferkult, zu viel Klage und zu wenig Beachtung dessen, was Betroffene zum gesellschaftlichen und politischen Wandel beitragen wollen. Identitätspolitik, das ist für viele ihrer Anhängerinnen und Anhänger vielleicht die bitterste Wahrheit, ist nicht links. Sie ist nicht einmal im bürgerlichen Sinne emanzipatorisch: Wer an Universitäten, in kulturellen Einrichtungen, in Akademien alles dafür tut, nichtidentitäre Perspektiven zu dämonisieren – wie kürzlich an der Berliner Volksbühne geschehen, als die Veranstalter Caroline Fourest eine Art woke Anstandsperson an die Seite stellen wollten –, endet irgendwann im totalitären Denken, steigert sich in die Rolle eines Erziehungsdiktators hinein, gleitet moralisch und politisch unkontrolliert ins lüsterne Delir von Machtphantasien. Der woke Identitätskram ist ein Versuch, selbst freies Gemurmel zu verhindern. Identitäre wähnen sich im Besitz schamanischer Klugheit und sind doch nur politische Zwergengestalten, die alles kleinhalten wollen, was ihren kulturellen Reinheitsphantasien widerspricht. Dass sie das alles zur Struktur hochjazzen, versteht sich von selbst.

Jan Feddersen ist seit 1996 Redakteur der Taz und Gründer sowie Vorstand der Initiative Queer Nations. Zusammen mit Philipp Gessler veröffentlichte er in diesem Jahr das Buch »Kampf der Identitäten. Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale«.