Deutsche Linke wissen oft wenig über die Geschichte Osteuropas

Im Land der Besserwisser

Deutsche Linke wissen oft wenig über die Geschichte Osteuropas, trotzdem fühlen sie sich auch in der derzeitigen Situation qualifiziert, Ratschläge zu verteilen. Das stößt einigen osteuropäische Linken bitter auf. Ein Gespräch mit Renata Kaminska von der linken Partei Lewica Razem.
Disko Von

Ich stamme aus Zamość, einer polnischen Stadt nahe der ukrainischen Grenze, dem Geburtsort Rosa Luxemburgs. Außerhalb Polens ist kaum bekannt, dass die Grenzen, die nach dem Zweiten Weltkrieg für das Land festgelegt worden waren, noch im Nachhinein von der sowjetischen Führung unter Stalin verschoben worden sind. 1951 kam es zum Polnisch-Sowjetischen Gebietsaustausch, der nur offiziell von polnischer Seite initiiert worden war. Die polnische Bevölkerung wurde durch eine Erklärung der Partei darüber informiert und es folgten Zwangsumsiedlungen. Die in den abgetretenen Gebieten lebenden Menschen mussten innerhalb von Tagen weiter ins polnische Landesinnere umziehen, da ihr Wohnort plötzlich nicht mehr zu Polen gehörte.

In den an die Sowjetunion abgetretenen Gebieten befand sich ein großer Teil der polnischen Kohlevorkommen. 1953 sollten die sowjetischen Grenzen noch weiter verschoben werden, nur Stalins Tod kam dazwischen. Sonst wäre ich heute vielleicht Ukrainerin. Dass diese Grenzverschiebungen in der deutschen Öffentlichkeit kaum bekannt sind, liegt sicherlich auch daran, dass bis in die neunziger Jahre in der BRD eher das Gejammer über die verlorenen deutschen Ostgebiete vorherrschte. Aber seltsam ist es schon, wie wenig man sich hierzulande für das Nachbarland interessiert.

Die Russen sind schuld daran, dass ich links bin. Als Jugendliche wurde ich festgenommen.

Die DDR war das Land des Ostblocks, das am bereitwilligsten mit der Sowjetunion kooperiert hat, während es in einigen anderen Ländern immer wieder zu Aufständen kam. Die Unterschiede sind bis heute auffällig. Das Gefühl der Besatzung hat mein Aufwachsen geprägt. Russische Soldaten – als solche betrachteten wir die Truppen der Roten Armee – waren im Alltag ständig präsent, und es bestand ein starker Druck auf die Grenzbevölkerung, sich der kommunistischen Partei anzuschließen.

Tat man das nicht, war mit erschwerten Lebensbedingungen zu rechnen, beispielsweise was berufliche Aufstiegschancen anging. Die Russen sind schuld daran, dass ich links bin. Als Jugend­liche wurde ich verhaftet. Wir haben Flugblätter für Meinungsfreiheit verteilt und Demonstrationen für politische Gefangene organisiert. Man kannte diese Leute, ist mit ihnen zur Schule gegangen oder sie waren Freunde der Eltern.

Ich erinnere mich gut daran, als in Polen 1981 das Kriegsrecht ausgerufen wurde. Diese Maßnahme richtete sich gegen die polnische Demokratiebewegung und die freie Gewerkschaft So­lidarność, es folgten zwei Jahre der Repression und Verhaftungen. In den Grenzgebieten gab es einige Gefängnisse und in dem Ort, in dem ich gewohnt habe, waren Künstler aus Warschau interniert. Das habe ich erst viel später erfahren. Bei der Inhaftierung von nonkonformen Kreativen war die Absicht, sie möglichst weit von ihrem Herkunftsort entfernt ins Gefängnis zu stecken. So konnten sie auch nicht besucht werden, da es unter dem Kriegsrecht verboten war, herumzureisen.
Es gab auch unabhängig vom Kriegsrecht Sperrstunden, besonders in studentisch geprägten Städten kam das vor. Als ich klein war, wurden bei uns zu Hause Flugblätter von Solidarność versteckt. Meine Mutter arbeitete als Ärztin, ich hatte immer Angst, dass sie einmal nicht mehr von der Arbeit ­zurückkommt.

Polen wurde über einen Zeitraum von 123 Jahren von Deutschen, Russen und Österreichern okkupiert, die polnische Sprache unterdrückt. Das sind etwa vier Generationen. Oftmals reicht es aus, die Sprache eine Generation lang zu unterdrücken, um sie aussterben zu lassen. Die Leute wollen eben ein normales, bequemes Leben haben und akzeptieren dann, dass sie sich einer anderen Sprache bedienen müssen.

Das ist das, was teilweise in der Ukraine geschehen ist. Deswegen plädieren heute auch so viele Ukrainer im Kulturbereich dafür, Russen während des Kriegs keine Plattform zu bieten. Diese Plattformen sollten statt Russen Ukrainern angeboten werden, die ukrainische Sprache soll gefördert und die Werke ukrainischer Künstler sollen ausgestellt werden. Die Russen sollen warten und ihren Platz wieder einnehmen, wenn der Krieg aufgehört hat.

In Polen gibt es die große Minderheit der Kaschuben. Sie haben eine private Universität gegründet und ihre Sprache weitergegeben. Die würde sonst verlorengehen, denn staatlich gefördert wird sie nicht. Was es unter solchen Bedingungen für eine Anstrengung bedeutet, eine Sprache am Leben zu halten, machen sich deutsche Linke keine Mühe zu verstehen. In der Sowjetunion war die Russifizierung zahlreicher nationaler Minderheiten weit fortgeschritten, und so sollte es auch in den osteuropäischen Staaten unter sowjetischer Kon­trolle laufen.

Die finanziellen Verbindungen Russlands in die deutsche Kunstwelt sind bedeutend. Deutschland greift gern auf diese Gelder zurück. Es ist abstoßend, dass reiche Länder wie Deutschland sich nicht zu schade sind, Diktatorengelder anzunehmen. Das führte zu einer Überpräsenz von russischer, oft propagandistischer Kultur. Künstler, die von Russland als Russen vereinnahmt wurden, werden auch von den deutschen Institutionen weiterhin als Vertreter einer angeblich spezifisch russischen Kunst präsentiert. Kandinsky, Malewitsch oder Chagall sind historische Beispiele für diese Vereinnahmung.

Ukrainer sagen oft, die Partei Razem sei eine der wenigen linken Parteien in Westeuropa, mit denen sie etwas zu tun haben wollen. Ich bin komplett entsetzt über die westeuropäische Linke. Unsere Partei hat Ethikstatute, da hätten Sahra Wagenknechts Aussagen zum sofortigen Ausschluss geführt. Hat die Linkspartei in Deutschland solche ­Regeln nicht? Wie kann es sein, dass bestimmte Vertreter in der Öffentlichkeit Thesen aufstellen, die denen der Partei widersprechen? Das ist doch Sabotage. Und die scheint aufzugehen, die deutsche Linkspartei ist am Ende.

Wir haben unsere Kontakte zur Linkspartei abgebrochen. Ich kenne privat ein paar Parteifunktionäre. Wir hatten auch vor dem Krieg keine offizielle Kooperation, aber es gab starkes Interesse der Linkspartei an uns. Sie hätten gerne eine engere Kooperation aufgebaut. Aber schon vor dem Krieg war das nicht möglich. Die blinde Verliebtheit in die russische Vorgehensweise war schlimm.

Noch schlimmer aber ist heute wie damals die Bevormundung. Da herrscht eine arrogante, besserwisserische Haltung. Es kommen viele Vorschläge, wie die Ukrainer sich verhalten sollten, aber selbst waren diese deutschen Linken niemals an Ort und Stelle. Diese Haltung habe ich nicht nur einmal beobachtet. Als Vertreter ihrer Partei benutzten sie mir gegenüber tatsächlich die deutschen Bezeichnungen Lemberg oder Breslau. Wenn da nicht »links« draufstünde, würde ich manchmal denken, es handele sich um Deutschnationale.

Razem hat eine empfehlenswerte Form entwickelt: Wir sind eine polnische Partei, agieren aber weltweit. Wir haben große exilpolnische Gemeinschaften. Ich bin im Berliner Zirkel, solche Zirkel gibt es auch in New York City und in Tokio. Die haben den gleichen Status wie Krakau oder Warschau. Die EU könnte auch so funktionieren, mit politischen Gruppen, die international sind, aber gleichzeitig ist man dort Bürger, wo man sich aufhält. Wir haben Anträge im EU-Parlament formuliert, dass beispielsweise das Wahlrecht unabhängig von der Staatszugehörigkeit dort gelten soll, wo man Steuern zahlt.

Razem entstand, nachdem 2015 der Kandidat der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Andrzej Duda, zum Präsidenten gewählt wurde. Wir waren schockiert und haben noch in der Wahlnacht die Partei gegründet. Die Regierung hat versucht, uns zu blockieren, indem sie Finanzmittel zurückhielt, und wir haben zusammengelegt und Schulden aufgenommen, um die Partei zu etablieren. Wir hatten zunächst viele Neuwähler, aber viele von denen distanzierten sich wieder von uns, als sie merkten, dass wir es ernst meinen mit Umweltschutz, Gleichberechtigung, Feminismus und höheren Renten, wie sie die Regierung immer verspricht. Auch die Kontrolle der Medien durch die Regierungspartei benachteiligt uns. Wir haben große Probleme mit der nationalistischen Partei Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit (Konfederacja), die wie wir viel von jungen Leuten gewählt wird; sie geht jedoch vor allem auf Stimmenfang bei perspektivlosen Männern.

Die Gründungsmitglieder von Razem haben keine Vergangenheit in anderen Parteien, wir haben uns außerhalb der Parteipolitik politisiert. Razem wurde gegründet, weil wir die bestehenden linken polnischen Parteien ablehnten. Daher stammt auch unsere Abneigung gegen das Berufspolitikertum. Führungspositionen auf Lebenszeit soll es bei uns nicht geben. Außerdem legen wir großen Wert auf das Paritätsprinzip. Zu Beginn haben wir die Regel eingeführt, dass Abstimmungen nur möglich sind, wenn auch genug Frauen teilnehmen. Wir sind die einzige Partei, die mit LGBT-Aktivisten und -Aktivistinnen und Flüchtlingen zusammenarbeitet, auch Freiheit im Kulturbereich und der Kampf gegen nationalistische Umdeutung von Geschichte sind wichtige Themen für uns.

Aufgezeichnet von Linn Vertein und Paul Simon.

 

Die polnische Künstlerin Renata Kaminska ist Mitglied der polnischen linken Partei Lewica Razem. Sie hat in Polen, der Schweiz und Deutschland studiert und lebt unter anderem in Berlin. Schon vor dem Ukraine-Krieg störte sie der Paternalismus und die provinzielle Sichtweise vieler deutscher Linker, die Russlandverehrung einiger findet sie verstörend.