Die Anzeichen für eine bevorstehende Wirtschaftskrise mehren sich

Normal in die Krise

Die Europäische Zentralbank will wie die US-Notenbank Fed den Leitzins erhöhen. Die seit der Rezession 2007 andauernde Politik des billigen Geldes soll enden – die Folgen sind noch nicht absehbar.

Um den derzeit steigenden Inflationsraten zu begegnen, kündigte die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, in einem Blogbeitrag am 23. Mai Schritte in Richtung einer »Normalisierung der Geldpolitik« an. Die Leitzinsen in der Euro-Zone sollen ab dem dritten Quartal in drei Schritten angehoben werden. Lagarde begründete dies mit einer »beispiel­losen Kombination« von wirtschaftlichen Schocks, die »sich in einem brei­teren und länger anhaltenden Inflationsdruck niedergeschlagen« habe.

Die »Normalisierung« ist also alles andere als normal. Zu den Schocks zählt Lagarde eine Industriegüter- und Dienstleistungsinflation infolge der Covid-19-Pandemie, zum Beispiel wegen Lieferengpässen und Personalmangels in bestimmten Branchen. Hinzu kämen steigende Energie- und Lebensmittelpreise, unter anderem wegen des Ukraine-Kriegs. Diese könnten weltweit eine Ernährungskrise zur Folge haben und Hungersnöte verschärfen, wie das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) in einer Mitteilung vom 24. Mai warnte.

Die erhöhten Zinssätze dürften auch Auswirkungen auf das kreditinduzierte Akkumulations­modell haben, das in den vergangenen Jahrzehnten Antrieb des Wachstums war.

Eine weltweite Verstetigung der hohen Inflation hätte dramatische Folgen für die Ökonomie. Bekämpfen können die Zentralbanken sie vor allem mittels Zinser­höhungen, wodurch die Geldmenge im Verhältnis zur umlaufenden Warenmenge (vor allem der Produk­tionsmittel) reduziert wird. Allerdings kann sich das negativ auf die Akkumulationsdynamik auswirken, weil eine Zinsanhebung Kredite verteuert und das fiktive Kapital verknappt, das seit Jahrzehnten die Akkumulation in Gang hält.

Die US-Notenbank Fed hatte den Leitzins bereits am 5. Mai von 0,5 auf ein Prozent erhöht, womit sie auf die Inflationsrate reagierte, die im März im Vergleich zum Vorjahresmonat 8,5 Prozent betrug; weitere Erhöhungsschritte sollen folgen. Dabei sehen andere fundamentale Wirtschaftsdaten gar nicht schlecht aus: In den USA lag die Auslastung der Produktionskapazitäten der Nachrichtenagentur Reuters zufolge im April bei 79,2 Prozent. Das ist der höchste Stand seit 15 Jahren und reicht damit an das Niveau kurz vor der »Great Recession« 2007 heran, wie der US-Nachrichtensender NPR am 20. Mai berichtete. Auch bei deutschen Unternehmen sind die Auftragsbücher meist gut gefüllt. Das geht aus dem aktuellen Monatsbericht der Bundesbank hervor. Um die vorhandenen Kapazitäten auszubauen, steigern Unternehmen ihre Investitionen in konstantes Kapital, vor allem im Bau­sektor, der Chemie- und ­Automobilindustrie sowie der Chipproduktion.

Damit einher geht eine steigende Nachfrage nach Arbeitskräften, während Friktionen in der Logistikbranche zu Warenknappheit führen. Viele haben die Bilder von sich stauenden Frachtschiffen vor den großen Häfen Chinas vor Augen. Der Welthandelsorgani­sation zufolge liegt das weltweite Handelsvolumen derzeit sechs Prozent ­unter dem Vorkrisenniveau. Durch den russischen Angriffskrieg in der Uk­raine hat sich die Lage noch verschlechtert. »Die Situation ist kompliziert ­aufgrund des weltweiten Angebotsschocks«, fasst Lagarde die Situation zusammen.

Industrieunternehmen gehen einer Umfrage der Bundesbank und des ­Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge von Produktionsrückgängen in den nächsten Monaten aus. Die Bundesbank geht in ihrem Monatsbericht davon aus, dass negative Effekte des Ukraine-Kriegs noch bis 2024 anhalten. Vergangene Woche warnte auch der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck: »Wir müssen vermeiden, dass die Inflation zu einer Rezession führt.« Im Fall einer Rezession könnte die Investitionstätigkeit zurückgehen, was wiede­rum erhebliche Auswirkungen auf die Zulieferer-, Rohstoff- und Logistikbranche haben kann. Einbußen dort träfen wiederum jene Sektoren hart, die sich derzeit vor Aufträgen kaum retten können.

Wenn aufgrund einer ökonomischen Kontraktion neue Investitionen in ­konstantes Kapital nicht mehr lohnen, droht eine Überakkumulationskrise: Kapital droht ganz oder teilweise ­seinen Wert zu verlieren – es könnte zur Stilllegung von Fabriken, zur Entsorgung unverkäuflicher Güterbestände und zu heftigen Korrekturen bei ­Aktienpreisen kommen. In diesem Fall würden die angekündigten Leitzins­erhöhungen ab Juli die Überakkumulation verschärfen – und somit auch die Risiken und Instabilitäten am ­globalen Immobilien- und Kreditmarkt.

Dort gibt es erste Anzeichen einer möglichen Preiskorrektur infolge steigender Zinssätze: Erstmals seit Jahren ist der Verkauf von Wohnimmobilien in den USA zwei Monate in Folge zweistellig zurückgegangen. Im Vergleich zum März fielen die Verkäufe um 16,6 Prozent. Zuvor waren sie bereits um 10,4 Prozent geschrumpft, wie die dem Handelsministerium unterstellte Behörde United States Census Bureau in ihrem aktuellen Marktbericht schreibt. Ein Preissturz in der Branche ist in Anbetracht des seit Jahren überhitzten Marktes mehr als wahrscheinlich, dürfte jedoch erst mit einer Ver­zögerung eintreten. Analysten wie Bill McBride rechnen mit ersten Preisrückgängen ab 2023.

Auch in Deutschland hätten die Preise für Wohnimmobilien in den Städten im vergangenen Jahr 15 bis 40 Prozent über ihrem Fundamentalwert gelegen, sagte Antonia Petri, eine Mitarbeiterin der Deutschen Bundesbank, der Jungle World. Allerdings sehen die Analysten der Bundesbank derzeit keine Hinweise auf einen Preisrückgang am deutschen Immobilienmarkt: »Derzeit gibt es weder auf der Nachfrage- noch auf der Angebotsseite Anzeichen für Entwicklungen, die eine Preiskorrektur auslösen könnten«, schrieb Petri auf Anfrage. »Die Schuldentragfähigkeit der privaten Haushalte in Deutschland erscheint insgesamt robust.« Es gebe aus Sicht der Bundesbank auch keinen »spürbaren Anstieg der Kreditausfälle. Der Anteil notleidender Kredite am Gesamtkreditbestand an private Haushalte ist gering.«

In den USA sieht es etwas anders aus. Einer aktuellen Studie der Kreditforschungsagentur Equifax zufolge können sogenannte Subprime-Haushalte dort bereits jetzt ihre privaten Kredite immer schlechter bedienen. Gemeint sind Haushalte, die aufgrund niedriger Einkommen ein schlechte Krediteinstufung haben, weil das Risiko von Zahlungsausfällen relativ hoch ist. Etwa elf Prozent dieser Haushalte sind inzwischen seit über zwei Monaten im Zahlungsrückstand, wie Equifax berichtet. Die Pandemie und die steigende Inflation treffen Arbeiterinnen und Arbeiter besonders hart.

Die Zinserhöhungen dürften sich auch auf das kreditinduzierte Akkumulationsmodell auswirken, das in den vergangenen Jahrzehnten Antrieb des Wachstums war. Das Geschäftsmodell von Unternehmen wie etwa Lieferando beruht, ähnlich wie bei Amazon, auf enormen Kapitalvorschüssen, so dass die Unternehmen zunächst expan­dieren können, ohne Profit einzufahren. Sie versuchen, ihre Konkurrenten so lange zu unterbieten, bis sie eine Monopolstellung annähernd oder tatsächlich erreicht haben. Voraussetzung dafür sind billige Kredite, die es nur bei niedrigen oder negativen ­Zinssätzen gibt.

Dass Kredite nun teurer werden und die Kreditnehmer die veränderten Marktbedingungen antizipieren, dürfte auch ein Grund für Einsparungen und Entlassungen in der algorithmusbasierten Lieferdienstbranche sein. ­Getir und Gorillas kündigten etwa Ende Mai an, bis zu 15 Prozent ihres Personals abzubauen, wie die »Tagesschau« berichtete. Auch beim digitalen Zahlungsdienstleister Klarna und beim Streaming-Dienst Netflix, die auf vergleichbaren Akkumulationsmodellen beruhen, drohen Einschnitte und Entlassungen.

Diese Faktoren bieten für sich genommen noch keinen Anlass zur Furcht vor einem Crash. Auch das Ifo-Institut erkennt noch keine Anzeichen einer Rezession, wie es am 23. Mai meldete. Doch die Indizien für eine herannahende Krise mehren sich.