In Polen wächst die Angst vor mehr Indoktrination in der Bildung

Bildung zwischen den Polen

Polens Regierung will ihre nationalkonservative Interpretation der Geschichte seit 1945 in einem neuen Unterrichtsfach zum Schulstoff für die Sekundarstufe machen. Auch die umstrittene Bildungsreform »Lex Czarnek« soll wieder im polnischen Parlament diskutiert werden. Kritiker befürchten das Ende regierungsunabhängiger Schulbildung.

Das antiliberale, rechtsgerichtete Online-Portal wpolityce.pl war nur eines von vielen regierungsnahen Medien, die der Minister für Bildung und Wissenschaft, Przemysław Czarnek von der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawied­liwość, PiS), Anfang Juni mit einem Exklusivinterview beehrte. Nach dem Veto des Staatspräsidenten Andrzej Duda im März gegen die umstrittene Bildungsreform, genannt »Lex Czarnek«, soll diese nun in überarbeiteter Form zurück in den Sejm, die erste Parlamentskammer.

»Es gibt bereits einen neuen Gesetzentwurf für mehr Kontrolle über alle linken Organisationen, (…) um damit das Tor der unkontrollierten Indoktrination zu schließen«, so Czarnek. Diese Aussage des Ministers, eines erzkonservativen Hardliners, der bereits für viele Kontroversen im Bildungswesen gesorgt hat, kam nicht überraschend. Bevor das parlamentarische Verfahren beginnt, werden PiS-Abgeordnete Beamte des Präsidialamts treffen, um etwaige Zweifel auszuräumen. »Ich denke, dass das Gesetz ab September in Kraft treten wird«, so der Bildungsminister.

»Es wird immer weniger über die Notwendigkeit der politischen Bildung gesprochen, dafür mehr und mehr über patriotische Erziehung.« Alicja Pacewicz, Bildungsexpertin

Vor dem Veto des Staatspräsidenten hatte sich über Monate hinweg eine starke Protestbewegung der Opposition und der Zivilgesellschaft gegen die Bildungsreform formiert. Sie sahen in einzelnen Gesetzesbestimmungen weniger einen Reformversuch als vielmehr ein dreistes Politisierungsmanöver. Unter anderem sollte die Schulbehörde – die mit regierungsnahen Beamten besetzt ist – ideologische Kontrolle und Einfluss darauf erhalten, welche gemeinnützigen Organisationen Bildungsprojekte an Schulen anbieten dürfen und welche nicht.

Das würde de facto schulische Bildung bei Themen wie Klima, Diskriminierung, Frauenrechte und Sexualkunde sowie in allen anderen Bereichen beenden, die nicht zur Regierungslinie passen. Gemeinnützige Organisationen leisten auf diesem Feld seit Jahren wertvolle Arbeit. Dazu gehören unter anderem Unterrichtsgestaltung und außerschulische Aktivitäten, die Unterstützung von Lehrern, Schülern und Schulleiterinnen, die Förderung von Chancengleichheit, Mediation und gewaltfreie Konfliktlösung.

Die Arbeiten an der Neufassung der Lex Czarnek laufen angeblich schon seit mehreren Wochen, doch noch ist unklar, welche der umstrittenen Stellen erhalten bleiben und in welcher Form. Die ursprüngliche Fassung des Gesetzes hatte auch vorgesehen, das Verfahren zur Absetzung unliebsamer Schuldirektorinnen und -­direktoren zu vereinfachen und die Möglichkeit abzuschaffen, gegen eine Absetzung Berufung einzulegen.

Seit 2015 dominiert die PiS jedes Kabinett, seither gibt es im Schulwesen eine klare Tendenz zur Zentralisierung und zum Abbau schulischer Autonomie sowie einen Wandel in der Bildungsrhetorik. »Es wird immer weniger über die Notwendigkeit der politischen Bildung gesprochen, dafür mehr und mehr über patriotische Erziehung und eine Gemeinschaft aus Nation und Blut«, sagt Alicja Pacewicz der Jungle World. Die engagierte Sozial- und Bildungsexpertin ist unter anderem Mitgründerin des Zentrums für ­zivilgesellschaftliche Bildung, Mitautorin zahlreicher Lehrbücher und Programme und Expertin des Europäischen Netzwerks für politische Bildung.

Im September führt das Bildungsministerium beispielsweise ein neues Unterrichtsfach an Mittelschulen ein, »Geschichte und Gegenwart«, das Geschichte zwischen 1945 und 2015 vermitteln soll. Es wird das Fach »Politische Bildung« ersetzen und nur etwa ein Viertel der bisherigen Inhalte, die sich dem politischen System, dem Recht, den Menschenrechten oder der Zivilgesellschaft widmen, werden übernommen. »Das ist keine adäquate politische Bildung für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts«, sagt Pacewicz. »Politische Bildung sollte bereits in den früheren Klassenstufen ernsthaft behandelt werden, doch im Zuge der PiS-Reformen wurde der Unterricht auf die letzte Klasse der Grundschule beschränkt. Mit der Einführung des neuen Fachs wird nun auch den Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe politische Bildung vorenthalten«, kritisiert sie.

Der Lehrplan von »Geschichte und Gegenwart« spiegelt an vielen Stellen das Weltbild der nationalkonservativen Regierung wider. So wird nicht etwa die Dringlichkeit von Klimaschutz vermittelt, sondern das Augenmerk auf »die Klimapolitik und ihre Kosten« gelegt, also die finanziellen Auswirkungen der Klimapolitik für die Gesellschaft, was eine pejorative Einschätzung dieser Politik nahelegt. Die eindeutige politische Färbung zeigt sich auch zum Beispiel am Ziel, den Schülerinnen und Schülern den Unterschied zwischen Ökologie und »Ökologismus« zu vermitteln. Letzteres ist ein Schlagwort, das Geistliche und rechte Politikerinnen und Politiker in Polen verwenden, um Umweltbewegungen zu diskreditieren. Worum genau es sich beim »Ökologismus« handeln soll, bleibt unklar, aber nach Aussagen aus dem rechten Lager könnte es eine »neue Form der Ideo­logie« oder »des Totalitarismus« sein.

Expertinnen und Experten für die Bewertung von Schulbüchern sehen im Lehrplan eine weitgehend verzerrte Darstellung der Welt. So erfordert er eine ausschließlich negative Bewertung des sogenannten Multikulturalismus oder der Ausweitung der Menschenrechte. Kritische Bildungs- und Geschichtsexperten wie der Geschichtsprofessor Andrzej Friszke wenden sich gegen diese Pläne. Seiner Meinung nach sei die neue Lehrgrundlage auf die Bedürfnisse und Interessen der PiS maßgeschneidert und diene dazu, künftige Wählerinnen und Wähler im Sinne der Partei zu beeinflussen.

Ermutigung zu politischer, öffentlicher oder sozialer Partizipation verschwindet ebenso aus dem Lehrplan wie kritische Auseinandersetzungen mit Wahlkampfmaterial, zum Beispiel mit Werbespots, Flugblättern und Wahlslogans, oder die Interpretation von Meinungsumfragen. »Der Abbau der Bürgerkunde wird das politische Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler und ihre persönlichen Handlungs- und Gestaltungsspielräume erheblich einschränken und ein Defizit grund­legender bürgerlicher Fähigkeiten nach sich ziehen«, so Friszke.

Der Soziologe und Politikwissenschaftler Łukasz Zamęcki sieht in den Änderungen des Lehrplans für die Sekundarstufe einen radikalen Versuch, mit einer liberalen Vorstellung von ­Gemeinschaft und Bürgern zu brechen: »Die meisten Änderungen zielen darauf ab, die Themen Kirche und Religion in der Geschichte Polens und der Welt stärker zu betonen. Der neue Bewertungsmaßstab zeigt sich in der Ablehnung der Renaissance, der Aufklärung, des Utilitarismus, des Szientismus und der Moderne sowie in der Betonung des Verhältnisses von Glauben und Vernunft im Geiste der christlichen Philosophie.« Der Einfluss radikalkonservativer Ideen auf die Politik, die staatlichen Institutionen, die öffentliche Debatte, die Medieninhalte und das Recht in Polen besteht seit 2015 ungebrochen. Kritikerinnen und Kritiker der Regierungspolitik befürchten, die Schule könnte sich angesichts der geplanten Zentralisierung der Bildungs- und Personalkompetenzen bei den Schulbehörden allein dem Konformitätszwang verschreiben.

Es mangelt nicht an Beispielen für politische Verfolgung von Personen, die sich nicht an die Vorgaben des Bildungsministeriums halten. »Es reicht, wenn zwei oder drei solcher Fälle von Einschüchterung von Lehrkräften medial die Runde machen und die meisten Lehrkräfte und Schulleiter beginnen sofort, sich selbst oder andere zu zensieren, um Schwierigkeiten zu vermeiden. Manche Schulen laden sogar keine Eltern mehr für Vorträge ein, zum Beispiel Architektinnen, Philosophinnen oder Ärztinnen, aus Angst, diese könnten etwas ›Unangemessenes‹ ­sagen, zum Beispiel über die globale Erwärmung, die Verfassung oder ­Verhütung«, so Pacewicz.

Die Bildungsexpertin fürchtet, dass so eine Situation geschaffen wird, in der ideologische Vorgaben eine wissenschaftlich fundierte und an den Bedürfnissen der jungen Menschen orientierte Bildung verhindern. »Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass junge Menschen in der Schule über die Argumente aller Seiten informiert werden und lernen, kritisch zu denken«, so Pa­cewicz. Sie beobachte außerdem schon seit einiger Zeit, dass viele engagierte Lehrkräfte und Direktorinnen und Direktoren die Schulen ver­lassen, weil sie das alles nicht mehr mitmachen wollen. Die Arbeit der Regierung an der Lex Czarnek trage erheblich zu dieser Furcht vor politischer Kon­trolle bei.