»AEIOU« von Nicolette Krebitz ist kein gewöhnlicher Liebesfilm

Liebe ist ein Wort mit A

In ihrem neuen Film »AEIOU – Das schnelle Alphabet der Liebe« lässt Nicolette Krebitz ihre ­Hauptfiguren, ein unbeholfenes Liebespaar, den Kanon romantischer Filme durcheinanderwirbeln.

Anna, alte Actrice; Adrian, ADHS-geplagter Außenseiter: »Alles fängt mit A an«, genauso wie Affäre und Atemlosigkeit. Der vierte Langfilm von Nicolette Krebitz heißt »AEIOU – Das schnelle Alphabet der Liebe«. Das Wort Liebe nehmen Anna und Adrian allerdings nicht in den Mund. Aber von Anfang an.

Adrian (Milan Herms) ist der junge Dieb und Bühnenlaie, der Anna (Sophie Rois), der Schauspielerin, die Handtasche stiehlt. Anna ist kurz darauf die Lehrerin, die Adrian Atmen, Sprechen und letztendlich Schauspielen beibringen soll. In Annas vier Wänden entfalten und entblättern sie eine Zuneigung zueinander, zu der ihnen aber irgendwie die Handlungsanweisung zu fehlen scheint.

Dem Film »AEIOU« gelingt mit Leichtigkeit ein un­­glaub­licher Spagat, indem er den Liebesfilmen (vor allem denen aus Frankreich) huldigt und zugleich deren überkommene Aspekte reklamiert.

Und damit wäre man auch schon bei dem angenehm unaufdringlichen Drehbuch des Films angelangt. Neben charmantem Wortwitz bildet Nicolette Krebitz hier etwas aus, das man Textwitz nennen könnte: Anna blättert durch das Skript einer althergebrachten Theater-Schmonzette, in der Adrian spielt, und fängt an, als Erzählerin ihre eigene Haltung in der dritten Person zu kommentieren: »Sie mochte ihn nicht, den Text.« Und Adrian scheint auch nur mäßig begeistert und gefordert: »Ich kann ihn schon. Den Text …« Auf der Suche nach etwas, das ihrem Empfinden zueinander gerecht wird, ihm Ausdruck verleiht, sind Anna und Adrian enttäuscht vom Gelesenen, denn alles, was sie diesem Skript zufolge zu sagen oder tun hätten, brächte ihre Liebe nicht voran.

Dann erkennt Anna: »Es gab keine Geschichte, in der sie sich wiederfanden.« Dabei gehöre es doch zum Dasein als Liebespaar, dass man nachstellt, was man so oft schon gesehen hat. In der Öffentlichkeit, dort, wo sie von anderen beobachtet werden können, werden sie dann doch unfreiwillig zu Produzenten der romantischen Texte und Bilder ihrer eigenen Geschichte ohne Vorbild, obwohl sie »nicht einmal nebeneinander hergehen« können, wie Anna feststellt. Also verkörpern sie stattdessen ganz einfach verspielte Unbeholfenheit.

Mit Freude beobachtet Annas Vermieter und enger Freund Michel (Udo Kier) ihr Glück. Doch auch er weiß nicht recht und erinnert, einen Champagnerkelch schwingend, Anna da­r­an, dass sie nun das Haltbarkeits­datum einer guten Waschmaschine von Miele überdauert habe. Das macht es nicht leichter, als gealterte Grazie die Zuneigung zu einem Teenager in eine Beziehung zu überführen.

Die Paarkonstellationen in den Filmen von Nicolette Krebitz sind oft nicht ohne. In »Das Herz ist ein dunkler Wald« (2007) geht es um eine Frau, deren Mann noch eine zweite Familie hat. Und in ihrem jüngsten Film, »Wild« von 2016, ist die Hauptfigur, gespielt von Lilith Stangenberg, in einen Wolf verliebt. »AEIOU« gelingt nun mit Leichtigkeit ein unglaublicher Spagat, indem er den Liebesfilmen (vor allem denen aus Frankreich) huldigt und zugleich deren überkommene Aspekte reklamiert. Dazu reicht es schon, dass er den Altersunterschied der Haupt­figuren zum Thema macht.

Ganz nebenbei verweist Krebitz Filmklassiker wie »The Graduate« (»Die Reifeprüfung«, 1963) von Mike Nichols oder Michael Hanekes »Die Klavierspielerin« (2001) in die zweite Reihe, wenn es darum geht, das Begehren älterer Frauen darzustellen. Nur scheinbar kratzten diese Filme am gesellschaftlichen Ethos ihrer Zeit, führte doch die Ausdeutung ihrer Protagonistinnen beim Publikum eher zur Abwehr des Gedankens, dass Frauen jüngere Männer begehren dürften. Während die von Anne Bancroft und Isabelle Huppert gespielten Vorgängerinnen potentielle Gefahren für den jungen Liebenden darstellten, ist Sophie Rois’ Anna eine sich in der Situation gefallende Unerfahrene und von der Liebe ebenso überrollt wie der Teenager Adrian.

Für »AEIOU« schrieb Krebitz, eine ausgebildete Schauspielerin, bewusst künstliche Platzhalterdialoge, die Sophie Rois und Milan Herms mit verzagter Neugier und punkigem Autonomiestreben randvoll mit Leben füllen. Sie sprechen über Buchstaben und Texte, übers Atmen und Verstehen. Sie sprechen über Rezepte, ohne zu kochen, und haben immer wieder Hunger.

Die Dialoge und Bilder, die man von Liebespaaren in Filmen üblicherweise zu hören und zu sehen bekommt, sind bekannt. Zuschauer füllen mit ihnen die Leerstellen in ihren eigenen Beziehungen. Auch Adrian und Anna ziehen aus jenen Versatzstücken, was sie können, aber immer nur bis zu dem Punkt, an dem Konventionen sie einzuengen beginnen. Dann spielen sie sich davon frei oder der meisterhafte Schnitt von Bettina Böhler setzt die Szene noch einmal neu an, bis sie gut ausgeht.

Nicht alles geht gut aus, erst mal aber ist die Flucht nach vorn angesagt: In einem Nachtzug fährt das Paar ans Mittelmeer. In Frankreich beginnt das Wort für Liebe mit einem A, weshalb sie wohl nach den Regeln dieses Films dort auch endlich hemmungslos stattfinden darf. Hier findet die Lust von Anna und Adrian klischeebefreit zur Sprache: »Küss mich mal! Na los.« Und hier schlafen sie auch miteinander.

Über Bilder der Romantik schrieb die Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch »Der Konsum der Romantik« 1997: »Im Tourismus wie in der Liebe wird die Grenze zwischen dem Zeichen, der Ware und dem Referenten immer dünner oder verschwindet sogar vollständig. Diese Bilder sind Simulakra, stereotype Kopien, von denen es keine Originale gibt. Das Zeichen – das Bild – wird zur Ware, die verkauft werden soll.«

Doch Anna und Adrian kaufen nichts. Sie prellen Zeche und klauen, was das Zeug hält. In einer luftig gestalteten Sequenz tänzelt Adrian als kleiner Stenz durch den Morgen. In einer Drehung erleichtert er eine russische Oligarchengeliebte um einen Schmuckkoffer, hüpft die Treppen hinauf, pflückt frischen Kaffee und Croissants von fremden Ta­bletts und stiehlt noch einen königlichen Meeresausblick, bevor er seinen Coup vollendet und die Schatulle auf den Gehweg wirft. Auf dem Rückweg reicht er galant der Russin etwas von ihrem verstreuten Geschmeide und lässt sich noch ein Säckchen in die Tasche gleiten. Filmisch ist das eine Glanzleistung, metaphorisch ein Warnhinweis: Achtung, Diebstahl!

Man sieht gestohlene Bilder aus anderen Liebesfilmen: der Blick aufs Meer, das Frühstück am Bett, das geschenkte Schmuckstück, die Zigarette danach. Doch wem gehören diese Bilder, die so oft gezeigt wurden, dass sie kein Original zu haben scheinen? Krebitz nutzt den Spielraum in dieser Frage aus und geht mit ihrem Kameramann Reinhold Vorschneider in die Vollen. Wie in doppelseitigen Hochglanzanzeigen kommen Anna und Adrian nun daher: Das Paar schreitet auf ausgeleuchteten Treppen, später steht sie am Roulettetisch in Abendrobe mit Collier und er hockt vor dem Casino im hellen Sommeranzug, in dem er dann auf der Promenade schläft. Der Film nimmt den Urlaub zur Selbstfindung des Paars zum ­Anlass für einen bunten Strauß an Bildern.

Anna und Adrian sind Ausnahme­erscheinungen im Kino der Liebenden, Figuren wie sie hat man vorher so noch nie gesehen. Sie sind Grenzgänger. Sie stürmen das Bildarchiv des Liebesfilms und bringen es ordentlich durcheinander. Den Typ libertärer Macho, wie man ihn aus den Filmen der Nouvelle Vague kennt, trifft man in den sonnendurchfluteten Straßen und Hotelzimmern von »AEIOU« nicht an, Krebitz hat ihn als Regisseurin aus ihrem Film verbannt und greift dennoch ästhetisch auf den klassischen französischen Liebesfilm zurück. »AEIOU« arbeitet gegen ihn – und gehört gerade deswegen in diesen Kanon.

AEIOU – Das schnelle Alphabet der Liebe (DE/FR 2022). Buch und Regie: Nicolette Krebitz. Darsteller: Sophie Rois, Milan Herms, Udo Kier. Filmstart: 16. Juni