Dario Argentos neuer Film »Dark Glasses«

Wenn die Sonne sich verdunkelt

Ein Prostituiertenmörder treibt in »Dark Glasses« von Dario Argento sein Unwesen. Der neue Film des Giallo-Veterans strotzt nebenbei nur so vor Anspielungen auf die römische Mythologie.

Spaziert man durch Rom, dann bietet sich an jeder Straßenecke ein Bild, in dem Geschichte und Gegenwart, Profanes und Heiliges, Kunst und Politik eng miteinander verschlungen sind. Dem Mythos zufolge wurde die Stadt von den Brüdern Romulus und Remus gegründet. Als Säuglinge in einem Korb auf dem Tiber ausgesetzt, trieben die Brüder an ein schlammiges Ufer, wo sie von einer Wölfin ­aufgenommen und gesäugt wurden. Nach ihrer Verwicklung in den Sturz des Tyrannen Amulius von Alba Longa wurde den beiden erlaubt, auf dem Hügel Palatin eine eigene Stadt zu gründen. Den Zwist um die Namensgebung für die Stadt und die politische Vormachtstellung in ihr konnte Romulus für sich entscheiden, indem er seinen Bruder erschlug.

Im Falle der rettenden Wölfin Mamma Lupa spielt die Erzählung mit einem wörtlichen Doppelsinn. Denn das lateinische »Lupa« bezeichnet nicht nur eine Wölfin, sondern auch eine Prostituierte: Die Stadt Rom wurde also aus einer Verkettung von Gewalt, politischen Aufständen und Prostitution geboren. Der italienische Horrorveteran Dario Argento dürfte für seinen neusten Film »Occhiali neri« ein ähnliches Fundament im Sinn gehabt haben.

In seiner mittlerweile über 50jährigen Regie­karriere ist Argento immer ein Kinopurist ge­­­blieben. Das bedeutet, dass seine Filme niemals eines ausgeklügelten Plots bedurften.

Es sind stille Tage in der ewigen Stadt, die hochsommerlichen Straßen und Piazze beinahe verwaist, die meisten Einheimischen befinden sich im Urlaub. Allen pittoresken Rom-Phantasien erteilt Argento umgehend eine Absage, auch die Temperaturen scheinen plötzlich ins Bodenlose zu fallen. Sein Rom in »Dark Glasses«, so der internationale Titel, ist kalt und abweisend. Über die Dächer senkt sich eine Sonnenfinsternis und lässt das öffentliche Leben in eine morbide Starre verfallen.

Nachts geht ein Prostituiertenmörder um, der seine Opfer mit einem weißen Lieferwagen verfolgt. Das Callgirl Diana (Ilenia Pastorelli) überlebt seine Attacke nur knapp, verliert dabei aber ihr Augenlicht. Keine Frage, dass der sadistische Serienmörder so leicht nicht aufgeben wird, und so sucht sich Diana Verbündete, um den Stalker abzuwehren: den durch den Autoangriff zum ­Waisenkind gewordenen Chin (Xinyu Zhang), die Mobilitätstrainerin Rita (Asia Argento) und eine Blinden­hündin.

Eine für Dario Argento typische abenteuerliche Ausgangssituation, die sich auf dem Papier beinahe komisch ausnimmt – durchaus im Sinne des Regisseurs. In seiner mittlerweile über 50jährigen Regiekarriere ist Argento immer ein Kinopurist ­geblieben. Das bedeutet, dass seine Filme niemals eines ausgeklügelten Plots bedurften. Kino, das ist für Argento Begehren und Schock, Flucht und Verfolgung, und vor allem: kriminelle Täterschaft, Opferschaft und Zeugenschaft. Diese Komponenten setzen sich bei Argento gemäß einer eskalierenden Traumlogik in Bewegung. Meist enden seine Filme ­abrupt und liefern keinerlei überzeugende Sinnstiftung, ihr Schluss kommt einem schweißgebadeten Erwachen gleich.

In den frühen Siebzigern tat sich Argento als einer der Hauptvertreter des Giallo hervor, eines Subgenres des Kriminal- beziehungsweise Horrorfilms, dessen Name auf eine spezifische Tradition in gelbe Einbände geschlagener italienischer Groschenromane zurückgeht. Formal standen vor allem Alfred Hitchcock und Michelangelo Antonioni dem Giallo Pate. Von Hitchcock übernahm man das ironische Desinteresse am »Whodunnit?«, an der Enthüllung eines Täters, ebenso den zivilen Pro­tagonisten, der zu Unrecht zum Verdächtigten wird, und nicht zuletzt die für »Psycho« aus dem Jahr 1960 paradigmatische Verbindung von ­visueller Lust und Gewaltdarstellung.

Antonionis »Blow-up« von 1966 wiederum inspirierte die beiläufige, unvorhersehbare Erzählstruktur, in welcher der Protagonist zufälliger Beobachter eines Verbrechens wird. Ob der von David Hemmings gespielte Fotograf auf einem seiner Schnappschüsse wirklich eine Leiche entdeckt hat, ist in »Blow-up« unerheblich. Die visuelle Wahrnehmung ist konsequent fetischisiert, ganz gleich, was der Protagonist sieht: Kunstgegenstände, die Körper von Fotomodellen oder eine Leiche im Park. Im Giallo entpuppt sich das zufällig beobachtete Verbrechen ­kongenial als künstlich hergestellte Schauanordnung, die zugleich ein anderes Verbrechen vertuscht. »Profondo rosso« aus dem Jahr 1975, ­Argentos stilistisch bis dato extravagantester Film, ist beinahe ein Remake von »Blow-up«. Nicht von ungefähr spielt David Hemmings auch hier die Hauptrolle.

Mit der wunderbaren Eröffnungssequenz von »Dark Glasses« verneigt sich Argento hingegen vor einem früheren Antonioni-Film, nämlich »L’eclisse« (deutscher Verleihtitel: »Liebe«) von 1962, in dem Monica Vitti und Alain Delon eine kühle Liebesbeziehung führen. Die letzten Minuten des Films zeigen nicht mehr das Paar, sondern menschenleere Straßenzüge Roms, während von Einstellung zu Einstellung allmählich eine Sonnenfinsternis aufzieht, die dem Film den Namen gibt.

Wo Antonioni endet, da fängt ­Argento an. Es wäre nicht die schlechteste Idee, die beiden Filme nach­einander anzuschauen. Diana, gerade auf dem Weg zu einem Kunden, steigt aus ihrem Auto und blickt in den sich verdunkelnden Himmel, wohlgemerkt ohne ihre Augen zu schützen. Das gesellschaftliche Strafbedürfnis gegenüber sexueller De­vianz schlägt im Giallo auf visueller Ebene zurück. Kaum ein Genre, das so klassisch freudianisch die Blendung als autoritäre Strafe für Sex einsetzt.

Die Sonnenfinsternis wird in »Dark Glasses« zum Omen für die Gewalt des misogynen Serienmörders. Hinter Diana murmelt ein Passant, schon in der römischen Frühgeschichte habe man gefürchtet, bei verdunkeltem Himmel werde die Welt untergehen. Ein anderer flüstert, der Sonne wie dem Tod könne man nicht ins Auge blicken. Es scheint alles da zu sein, die nahende Bedrohung ist geradezu körperlich spürbar, an Weglaufen ist nicht zu denken.

Argento, der in den vergangenen 20 Jahren seiner Karriere von Kritikern wie von Fans viel unverdiente Schelte erfahren musste, scheint in seinem neuen Film vermeiden zu wollen, Gemüter zu erhitzen. Die grelle Experimentierfreudigkeit seiner vorangegangen Filme tauscht er ein gegen stoische Planmäßigkeit. Ohne viel Umschweife erhöht Argento aber doch den Druck auf allen Ebenen des Films. Sturzbäche an Blut werden vergossen, der Soundtrack pulsiert; der Regisseur scheint signalisieren zu wollen, nichts an Präzision oder Rasanz eingebüßt zu haben.

Das Ergebnis ist paradoxerweise, dass sich »Dark Glasses« trotz seiner wenig zurückhaltenden Formsprache beklemmend still und zutiefst einsam anfühlt. Den Bildern geht, abgesehen von der Eingangssequenz, alles Unvorhersehbare oder Schwelgerische ab. Die angekündigte Rückkehr zum Giallo, zumal zu Argentos eigenen römischen Frühwerken, stellt der Film nicht dar. Man denke an seinen wunderschönen Debütfilm »L’uccello dalle piume di cristallo« von 1970, auf Englisch »The Bird with the Crystal Plumage«. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Paradies­vogel von Schockkino, dessen schimmerndes Gefieder bei jeder Sichtung neue Facetten offenbart.
Eine ähnlich entrückte Doppelbödigkeit wie im Auftakt findet sich vielleicht nur in den letzten Bildern von »Dark Glasses«. Da ragen die gerettete Diana und ihre Hündin überlebensgroß, wie in die Gegenwart ­katapultierte Mythengestalten, aus dem Menschengewirr an einem Flughafenterminal hervor. Diana, die römische Schutzgöttin der ­Frauen – und ihre »Mamma Lupa«.

Dark Glasses (IT/FR 2022). Buch: Dario ­Argento, Franco Ferrini, Carlo Lucarelli. ­Regie: Dario Argento. Darsteller: Ilenia Pastorelli, Asia Argento. Filmstart: 16. Juni