Ölblockaden und Kämpfe zwischen Milizen in Libyen

Ölblockaden und Milizen

In Libyen eskaliert der Machtkampf zwischen der in Tripolis ansässigen Regierung unter Ministerpräsident Abdul Hamid Dbeiba und der Parallelregierung unter Fathi Bashagha. In Tripolis kam es bereits zu bewaffneten Konflikten.

Es ist ein seit Monaten wohlbekanntes, wiederkehrendes Phänomen: Am 13. Juni stürmten zum wiederholten Mal Protestierende Ölfelder und Ölhäfen in weiten Teilen Libyens und blockieren auf diese Weise die Öl- und Gasförderung. Die Ölförderung des Landes sei auf 100 000 bis 200 000 Barrel pro Tag gefallen, sagte der Ölminister Mohammed Aoun am Montag voriger Woche; eine Woche später schätzte er, die Ölförderung sei im Laufe der vorigen Woche wieder auf 700 000 bis 800 000 Barrel pro Tag gestiegen. Im vergangenen Jahr hatte sich die Förderkapazität mit mehr als 1,1 Millionen Barrel pro Tag wieder auf etwa 60 Prozent der vor dem Aufstand gegen den Diktator Muammar al-Gaddafi 2011 ­üblichen Menge stabilisiert. Die Blockierer fordern die Übergabe der Amtsgeschäfte der Regierung unter Ministerpräsident Abdul Hamid Dbeiba in Tripolis an die rivalisierende Parallelregierung unter Fathi Bashagha, die mittlerweile in Sirte sitzt. Bashagha sagte, es gebe kaum Chancen, dieses Jahr Wahlen abzuhalten, womit er faktisch zu verstehen gab, dass mit weiteren Ausfällen der Ölproduktion in den kommenden Monaten zu rechnen sei.

Die Blockaden finden in den Landesteilen statt, die der ostlibysche Warlord Khalifa Haftar und seine Verbündeten besetzt halten; Haftar unterstützt Bashaghas Regierung. Dieser formulierte am 17. Juni Bedingungen für ein Ende der Blockade: Die Libysche Zentralbank müsse die Gelder aus dem Ölexport statt an Dbeiba an Bashaghas Regierung überweisen, dann hätten die Anwohner der Ölfelder »keine Bedenken mehr«. Damit legte Bashagha offen, dass die Demonstrationen gesteuert sind.

Die Blockierer fordern die Übergabe der Amtsgeschäfte der Regierung unter Ministerpräsident Abdul Hamid Dbeiba in Tripolis an die rivalisierende Parallelregierung unter Fathi Bashagha.

Zwar kontrolliert Haftars Koalition, zu der mittlerweile auch Milizen aus Süd- und Westlibyen zählen, viele Ölquellen des Landes, nicht jedoch deren Erträge. Die dafür zuständige überparteiliche Verwaltungsbehörde in Tripolis, die National Oil Corporation (NOC), überweist die Öleinnahmen bislang an die Libysche Zentralbank in Tripolis, die diese Gelder an beide Landesteile verteilen soll. Deren Vorsitzender gilt jedoch als ein Verbündeter Dbeibas. Die Gegenseite beklagt daher, dass ein Großteil des Geldes an Milizen in der Hauptstadt gelangt, die Dbeiba unterstützen. Dieser tritt gerne mit vollmundigen Versprechungen über große Infrastrukturprojekte und soziale Wohltaten in Erscheinung. Gleichzeitig jedoch hängen ihm zahlreiche Korruptionsskandale an. Einer davon betrifft Bestechungsvorwürfe bei seiner Wahl zum Übergangsministerpräsidenten im Rahmen des sogenannten Berliner ­Prozesses, mit dem die UN zwischen den Bürgerkriegsparteien vermitteln wollten.

Die für Ende Dezember angesetzte Wahl wurde wegen eskalierender Konflikte über die Liste erbittert rivalisierender Präsidentschaftskandidaten abgesagt, nachdem bereits die Parlamentswahlen auf unbestimmte Zeit verschoben worden waren. Das ostlibysche Parlament rief eine neue Regierung aus. Die nicht einmal einminütige Abstimmung des ostlibyschen Parlaments zugunsten Bashaghas als neuem Ministerpräsident war überaus zweifelhaft. Zwei rivalisierende Regierungen befinden sich seither in einem ständig weiter eskalierenden Machtkampf.

Dabei hat die Unzufriedenheit über mangelnden Zugang zu Ölerlösen zu eigenartigen Allianzen der Gegner der Regierung in Tripolis geführt: Ba­shagha, der traditionell gute Kontakte zu Milizen in der westlichen Hafenstadt Misrata hat, befindet sich nun im selben Lager wie Haftar. Das wäre vor einigen Jahren unvorstellbar gewesen, hatte Ba­shagha als Innenminister doch noch 2020 dafür gesorgt, dass Kämpfer in türkischen Diensten auf Seiten der damaligen Regierung in Tripolis eingriffen, um die Eroberung der Hauptstadt durch Haftar aufzuhalten.

Am frühen Morgen des 17. Mai versuchte Bashagha, in der Hauptstadt die Macht zu ergreifen. Er kam unter dem Schutz der mächtigen Nawasi-Brigade nach Tripolis, doch bald darauf entdeckten ihn Dbeiba nahestehende Milizen, sein Fahrzeug wurde beschossen. Diese Machtprobe hätte beinahe zu einem Wiederausbrechen des Kriegs zwischen rivalisierenden Milizen geführt und sorgt seitdem innerhalb des Milizenkartells für weitere Konflikte, da die meisten Milizen in Tripolis bislang Dbeiba unterstützten. Am Abend des 10. Juni kam es zu ungewöhnlich schweren Gefechten zwischen der Nawasi-Brigade und einer rivalisierenden Miliz in der Stadt, vier Zivilisten wurden verletzt. Dem Libyen-Experten Jalel Harchaoui zufolge zeigt sich die Zerrissenheit Libyens nun mitten in Tripolis.

Viele von Bashaghas traditionellen Unterstützern aus dem Milizenkartell haben Probleme, eine Allianz mit Haftar einzugehen, gegen den sie zwei Jahre zuvor noch kämpften. Sie werfen ihm vor, noch immer die alleinige Herrschaft über das Land anzustreben. Andere weisen auf die selbst für die Verhältnisse Libyens, wo so gut wie alles unter Milizen­kontrolle steht, ungewöhnlich starke Repression in Haftars Machtgebieten hin, die nicht nur von Menschenrechtsorganisationen, sondern auch von den UN kritisiert wird.

Anders als bislang könnte diese ­Repressivität für Haftar nun zu Konsequenzen führen. Gegen den libysch-US-amerikanischen Doppelstaatsbürger, der einige Jahre lang für die CIA in ­Virginia als Informant arbeitete, läuft vor einem US-Bundesgericht derzeit ein aufsehenerregender Zivilprozess. Mutmaßliche libysche Opfer klagen seit zwei Jahren auf die Herausgabe der US-Immobilien Haftars als Kompensation für Folter, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen durch Milizen unter seiner Kontrolle. Haftars Verzögerungstaktik scheiterte, einer der Richter empfahl am 4. Juni eine Verurteilung. In dem Prozess, der in Libyen mit Spannung verfolgt wird, wird für den 24. Juni das Urteil erwartet.

Seit etwa fünf Jahren genießt Haftar Russlands Unterstützung, unter anderem in Form von Wirtschaftshilfe und durch Söldner der Gruppe Wagner. Russland ist bislang das weltweit einzige Land, das Bashaghas Parallelregierung offiziell anerkannt hat, und empfing dessen Vertreter vorige Woche beim Sankt Petersburger Wirtschaftsforum. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben Bashaghas Verbündeten Haftar mittlerweile ihre Unterstützung entzogen. Die Regierung Dbeiba wiederum stimmte in den UN-Gremien mehrfach gegen Russland.

Vor einigen Wochen hat die EU wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine ein Embargo für russisches Öl verhängt, das per Schiff transportiert wird; deswegen suchen die EU-Staaten nach neuen Energielieferanten. Libyen wäre mit einer Förderkapazität von bis zu 1,6 Millionen Barrel pro Tag ein willkommener Partner, um einen erheblichen Teil des Versorgungsausfalls beim Öl auszugleichen; zum Zeitpunkt der Einführung des Seeembargos wurden immerhin noch durchschnittlich einige Hunderttausend Barrel pro Tag aus Libyen nach Europa verschifft. Mehrere italienische Regierungsmitglieder haben Libyen als Partner für Öl- und auch Gaslieferungen ins Spiel gebracht, da Libyen auch reiche Gasvorkommen besitzt. Dazu kommen bestehende lukrative Verträge der NOC mit dem ita­lienischen Ölunternehmen Eni, allerdings ist der Anteil von libyschem Gas am italienischen Import noch klein.

Die Libyen-Analystin der International Crisis Group, Claudia Gazzini, weist darauf hin, dass Bashagha westlichen Regierungen gezielt gute Beziehungen in Aussicht gestellt habe. Notwendig sei dafür lediglich, seine Regierung offiziell anzuerkennen und zu unterstützen. Dass diese Forderung erfüllt wird, ist nicht sehr wahrscheinlich. Aber auch Dbeiba scheint nicht in der Lage, einen Ausweg aus der Krise zu weisen. Er hat mittlerweile Schwierigkeiten, bislang loyale Milizen zu bezahlen.

Eine Vermittlung und eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses der UN stößt auf wachsende Schwierigkeiten. Der Vorsitz der Libyen-Mission der UN ist auf Betreiben Russlands seit dem Rückzug des Slowaken Ján Kubiš im November vergangenen Jahres noch immer vakant, die UN-Sonderberaterin Stephanie Williams, die von UN-Generalsekretär António Guterres eine Art Ersatzmandat für Libyen erhalten hat, soll Ende Juni abtreten. Ersetzen soll sie der deutsche Diplomat Christian Buck, der bis vor kurzem im Krisenreaktionszentrum des Auswärtigen Amts arbeitete. Er dürfte Williams Versuche, eine Einigung über die zukünftige Verfassung des Landes zu erzielen und damit Wahlen vorzubereiten, fortführen.

Auf die Konflikte hat das jedoch nicht viel Einfluss. Die UN haben die Initiative der Vermittlung mittlerweile an Ägypten verloren, doch dessen Versuche, Verhandlungen über den künftigen Status von Regierung und Parlament zu führen, scheiterten Mitte Juni. Viele Regierungen warten einfach ab, wie sich der Machtkampf zwischen den rivalisierenden Ministerpräsidenten und den mit ihnen verbündeten Milizen entwickelt.