Der Linke Gustavo Petro wird ­Kolumbiens nächster Präsident

Vom Guerillero zum Präsidenten

Der Linke Gustavo Petro ist Kolumbiens designierter Präsident. Er tritt versöhnlich auf, und das ist nötig, denn Widerstände gegen sein politisches Programm dürfte es reichlich geben.

Das Ergebnis dürfte viele Linke und Menschenrechtler begeistern: Am Sonntag hat Gustavo Petro mit 50,44 Prozent der Stimmen die Stichwahl um die kolumbianische Präsidentschaft gewonnen – es war sein dritter Anlauf. Über 11,2 Millionen Wahlberechtigte stimmten für den 62jährigen Kandidaten des linken Bündnisses Pacto Histórico (Historischer Pakt); sein Konkurrent, der populistisch-konservativ ­auftretende Immobilienmillionär Rodolfo Hernández, erhielt 47,31 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag mit 58 Prozent rund drei Punkte höher als die in der ersten Runde vom 29. Mai (Jungle World 23/2022). Hernández erkannte den Wahlsieg Petros früh an, so dass keine partielle Neuauszählung der Stimmen wegen Wahlbetrugs droht wie bei der Parlamentswahl vom 13. März.

Petro und Francia Márquez versprechen eine »Politik der Liebe« und hoffen auf ein »nationales Übereinkommen« und »größt­möglichen Konsens«, um das Land zu befrieden.

Die zehn Millionen Wählerinnen und Wähler der konservativen Opposition seien im Präsidentenpalast, der Casa de Nariño, willkommen, teilte Petro in seiner ersten Rede mit: »Wir werden die Macht nicht dafür einsetzen, unsere Gegner zu vernichten.« In seiner Jugend hatte Petro noch bewaffnet gekämpft, mit 17 Jahren hatte er sich in den Siebzigern der Guerillagruppe M-19 an­geschlossen und war in den Achtzigern wegen Waffenbesitzes inhaftiert gewesen.

Petros designierte Stellvertreterin ist Francia Márquez, die das Ministerium für Inklusion leiten wird. Die in Kolumbien ungewohnte Parole des neuen Duos an der Staatsspitze lautet: »Kein Krieg mehr.« Die beiden versprechen eine »Politik der Liebe« und hoffen auf ein »nationales Übereinkommen« und »größtmöglichen Konsens«, um das Land zu befrieden. Sie wollen Friedensverhandlungen mit den beiden verbleibenden Guerillas, ELN und EPL, sowie mit paramilitärischen Gruppen führen. Die ELN erklärte sich bereits einen Tag nach der Wahl zu Friedensverhandlungen bereit. Solche Verhandlungen hatte der scheidende konservative Präsident Iván Duque genauso blockiert wie die Implementierung des Friedensabkommens vom November 2016 mit der Guerilla Farc. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Invamer von Mitte Mai zufolge lehnten 67 Prozent der Befragten Duque als Präsidenten ab – damit wird er als einer der unbeliebtesten Staatschefs Kolumbiens in die Geschichte eingehen.

Das Friedensabkommen soll nun reaktiviert und erfüllt werden. Die zentrale Ursache des seit 1964 schwelenden Konflikts sei die Landkonzentration, so der ehemalige Richter Iván Velásquez, der bis September 2019 die Internationale Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala (CICIG) leitete. Er befürwortet die im Friedensabkommen vereinbarte Umverteilung von mehreren Millionen Hektar Land an Kleinbauern, deren Boden sich oftmals paramilitärische Gruppen angeeignet hatten. Eine historische Herausforderung, die Widerstand hervorrufen wird, aber auch dafür sorgen kann, die Nahrungsmittelproduktion in Kolumbien wieder zu steigern und die Abhängigkeit von Importen bei Grundnahrungsmitteln wie Mais, Bohnen und Getreide zu verringern.

Die Förderung der Nahrungsmittelsouveränität steht im Programm der künftigen Regierung, zudem ein klima­freundlicher Umbau der Ökonomie und eine Reduzierung der oft unter verheerenden Bedingungen erfolgenden Rohstoffförderung. Steinkohle, Erdöl, Mineralien und Edelmetalle machen jedoch rund 50 Prozent der Exporte Kolumbiens aus, so dass die Suche nach Alternativen entscheidend sein wird. Dabei braucht Petro Unterstützung aus der Wirtschaft. Catalina Escobar vom Unternehmerverband ANDI warb für ­einen Neuanfang mit dem bei vielen Unternehmern gefürchteten Linken. Der Präsident des ANDI, Bruce Mac Master, sagte: »Wir haben die Hoffnung, dass wir einen konstruktiven Dialog führen können«, und verwies auf Petros Wissen als studierter Ökonom.

Die Regierungen von Chile, Honduras, Bolivien und etlicher anderer Länder gratulierten Petro und Márquez zum Wahlsieg; ebenso Brasiliens ehemaliger Präsident und designierter Präsidentschaftskandidat der Arbeiter­partei für die Wahlen im Oktober, Luiz Inácio Lula da Silva. Ihm könnte in ein paar Monaten eine ähnliche Aufgabe wie Petro zufallen: einen demokratischen Neuaufbruch in einem zutiefst korrupten und politisch polarisierten Land einzuleiten.

Eine Mammutaufgabe nicht nur in Kolumbien, wo am Wahlabend neben Petro die Mutter des 2019 von einem Polizisten während Protesten in Bogotá erschossenen Studenten Dilan Cruz auf der Bühne stand. Petro appellierte zudem an den Generalstaatsanwalt Francisco Barbosa, die inhaftierten Jugend­lichen freizulassen, die bei den landesweiten Streiks vom Frühjahr 2021 festgenommen worden waren. Dessen Antwort lautete: »Wenn der gewählte Präsident um die Freilassung junger Menschen ersuchen will, die Verbrechen begangen haben, sollte er den Kongress bitten, das Gesetz zu ändern, und nicht den Generalstaatsanwalt.« Barbosa, aber auch etliche andere Funktionäre in staatlichen Institutionen, gehören zum Kreis Duques und haben noch einige Jahre Amtszeit vor sich. Fingerspitzengefühl und eine aktive Zivilgesellschaft braucht Petro, dem nachgesagt wird, als Bürgermeister von Bogotá autoritär aufgetreten zu sein, um das auf mehrere Legislaturperioden angelegte Reformprogramm umzusetzen. Der Aufbruch in die progressive Zukunft Kolumbiens könnte sonst schnell im Frust enden.