Die öffentlichen Anhörungen zum Sturm auf das US-Kapitol

Was um den 6. Januar geschah

Die Anhörungen des Komitees zur Untersuchung des Sturms auf das US-Kapitol in Washington, D.C., fördern aufsehenerregende Details zutage.

Barry Dean Loudermilk, seit 2015 Mitglied des US-Repräsentantenhauses, hält das Komitee des Repräsentantenhauses zur Aufarbeitung der Ereig­nisse vom 6. Januar 2021 für einen großen Skandal. Der bekennende Anhänger des damaligen US-Präsidenten Donald Trump hatte 2019 das diesem seinerzeit drohende Amtsenthebungsverfahren mit der Kreuzigung Jesu verglichen.

Loudermilk, der gute Beziehungen zu Evangelikalen wie dem Vorsitzenden der rechtsextremen Vereinigung Wallbuilders, David Barton, unterhält, sah sich am 15. Juni veranlasst, mit mehreren Tweets auf den Wunsch des Komitees zur Untersuchung des Sturms auf das Kapitol zu reagieren, mehr über eine bestimmte Besuchergruppe zu erfahren. Diese hatte Loudermilk einen Tag vor dem Sturm durch das Gebäude geführt. Es sei unverschämt, dass er ­erneut verdächtigt werde, empörte er sich; die für die Sicherheit des Kapitols zuständige Polizeieinheit habe bereits vor Monaten festgestellt, dass es sich um harmlose Besucher gehandelt habe, unter ihnen Kinder. Besichtigt worden seien nur Orte im Kapitol, in die am nächsten Tag niemand widerrechtlich eingedrungen sei, überdies sei keiner seiner Besucher in die Ausschreitungen verwickelt gewesen.

Diese Behauptung erwies sich um­gehend als schwerer Fehler – das Komitee veröffentlichte Ausschnitte aus Überwachungsvideos sowie Fotos, die Loudermilks Besucher als ganz und gar nicht harmlos erscheinen lassen. Die Sehenswürdigkeiten des Kapitols interessierten sie nicht, statt dessen machten sie Fotos von Sicherheitsschleusen, Fluchtwegen, Sicherheitstüren, Treppenaufgängen und den Zugangspunkten der Gänge, die die verschiedenen Gebäudeteile verbinden.

In den Anhörungen sagte unter anderem der ehemalige Generalstaatsanwalt William Barr aus, dass er Trump ausdrücklich gesagt habe, dessen Wahlbetrugs­anschuldigungen seien »bullshit«.

Warum Loudermilk seiner Besuchergruppe lange, langweilige Gänge, den Mitarbeiterflügel und Treppen zeigte statt die Rotunda und Kunstwerke, ist bis heute nicht klar. Ebenso wenig ist geklärt, warum er überhaupt Besucher hatte – zum damaligen Zeitpunkt war wegen der Coronaregeln offiziell nur Abgeordneten, Mitarbeitern, der Presse und ­Sicherheitspersonal der Zugang zum Kapitol gestattet. Klar ist dagegen, dass es sich mitnichten um junge Familien mit Kindern handelte, sondern um mehrheitlich mittelalte Männer. Einer von ihnen verhielt sich besonders auffällig: Er fotografierte unter anderem ein im Dunkeln liegendes Treppenhaus mit gleich drei verschiedenen Handys.

Videos, die einen Tag später während der Ausschreitungen vor dem und im Kapitol entstanden, legen den Verdacht nahe, dass zumindest einige Rädelsführer mit den Örtlichkeiten derart vertraut waren, dass sie genau wussten, wo sich Abgeordnete und Mitarbeiter aufhielten und wie sie am schnellsten an bestimmte Ziele gelangen könnten. Dazu passt auch ein kurzer Filmausschnitt, der eine Frau zeigt, die außen, an einem Fenster stehend, in das Gebäude Eindringenden erstaunlich detaillierte Abweisungen gab.

Der eifrig fotografierende Besucher aus Loudermilks Gruppe gehörte einen Tag später zweifelsfrei zu dem Mob, der einen gewaltsamen Umsturz wollte. Ein Video hält fest, wie er rief: »Es gibt kein Entkommen, Pelosi, Schumer, Nadler«, während das Kapitol gestürmt wurde. »Wir kommen, um euch an den Haaren herauszuzerren.«

Möglicherweise wird Loudermilk vor dem Komitee aussagen müssen, aber ob die verhinderten Umstürzler am 6. Januar Hilfe von den Besuchern des Abgeordneten erhielten oder nicht, ist eigentlich nur eine zweitrangige Frage. Vor allem geht es darum, ob Donald Trump nachgewiesen werden kann, dass er seine Anhänger aufhetzte, indem er wider besseres Wissen so tat, als sei er nur durch Wahlbetrug um eine zweite Amtszeit gebracht worden.

Dafür spricht einiges. In den Anhörungen sagte unter anderem William Barr, der unter Trump Generalstaatsanwalt war, aus, dass er diesem ausdrücklich gesagt habe, dessen Betrugsanschuldigungen seien »bullshit«. Der Präsident verschwende mit den »idiotischen Behauptungen« nur seine Zeit.

Auf CNN wiederholte am Wochenende auch die ehemalige Direktorin für strategische Kommunikation im Weißen Haus, Alyssa Farah Griffin (damals noch Alyssa Farah), Trump habe genau gewusst, dass er der rechtmäßige Wahlverlierer sei. »Er gab es sogar zu«, sagte sie. »Während er Joe Biden im Fern­sehen sah, platzte es aus ihm heraus: Kannst du dir vorstellen, dass ich gegen diesen Typen verloren habe?« Dass Griffin dies nun wiederholte, ist auch deshalb bemerkenswert, weil sie nach ihrem Rücktritt im Dezember 2020 beim konservativen Fernsehsender Fox News aufgetreten war und die Lüge vom Wahlbetrug weiterverbreitet hatte.

Zu denen, die Trump einredeten, dass er gute Chancen habe, weiter Präsident zu bleiben, gehörte auch der Anwalt und ehemalige New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani. Er und seine Mitstreiter hatten verwickelte Verschwörungsgeschichten erfunden, von denen selbstredend keine einzige juristischen Überprüfungen standhielt. ­Jason Miller, ein ehemaliger Ratgeber Trumps, bezeichnete in seiner Anhörung Giuliani als in der Wahlnacht »definitiv betrunken«, wofür dieser ihn umgehend als »hinterhältiges Arschloch« titulierte. Eine der beeindruckendsten und für Trump verheerendsten Aussagen gab der konservative ­ehemalige Bundesrichter J. Michael Luttig ab. Der 68jährige renommierte Jurist hatte den damaligen Vizepräsidenten Mike Pence beraten, den Trump und seine Anhänger in den Tagen vor dem 6. Januar stark unter Druck gesetzt hatten, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen. Am 5. Januar war Luttig bei einem Treffen im Oval Office an­wesend. Trumps Anwalt John Eastman versuchte an diesem Tag, Pence davon zu überzeugen, dass die Verfassung ihm das Recht gebe, die Anerkennung des Wahlergebnisses zu verschieben. Pence schloss sich jedoch der Position Luttigs und weiterer konservativer Juristen an und gab bekannt, dass er in den Wahlprozess nicht intervenieren werde.

Vor seiner Anhörung am 16. Juni veröffentlichte Luttig eine Erklärung fürs Protokoll, in der er festhielt, dass Trump und seine Verbündeten einen »Krieg gegen die Demokratie »angezettelt hätten. Dass der Präsident derartigen Argumenten gefolgt sei, sei atemberaubend. Den 6. Januar bezeichnete Luttig, ein überzeugter Christ, als »den letzten schicksalhaften Tag bei der Durchführung eines ausgeklügelten Plans«, der vom Präsidenten entwickelt worden sei, um die Wahl des Jahres 2020 »um jeden Preis zu kippen«.

Seine Aussage vor dem Komitee beendete Luttig mit einer unverhohlenen Warnung: »Donald Trump und seine Verbündeten und Unterstützer sind eine klare und gegenwärtige Gefahr für die amerikanische Demokratie.« 2024 würden sie erneut versuchen, den Wahlausgang in ihrem Sinn zu beeinflussen, »aber da, wo sie 2020 scheiterten, werden sie dann erfolgreich sein«.

Viel wird nun davon abhängen, wie die Befragungen in der Öffentlichkeit ankommen. Eine repräsentative Meinungsumfrage von ABC News/Ipsos am 17. und 18. Juni ergab, dass 60 Prozent der Befragten die Anhörungen für fair und unvoreingenommen halten. 58 Prozent gehen davon aus, dass Trump einer der Hauptverantwortlichen für den Sturm seiner Anhänger auf das Kapitol sei und angeklagt werden sollte. Vor dem Beginn der Anhörungen im April waren es 52 Prozent gewesen.

Eine Sensation ist dieses Ergebnis nicht, denn 91 Prozent derjenigen, die Trump vor Gericht gestellt sehen wollen, sind Anhänger der Demokraten. Bei den befragten Wählern der Republikaner ergab sich ein ganz anderes Bild: Nur 21 Prozent finden, dass Trump zu einem großen Teil für die Ausschreitungen verantwortlich sei, und 19 Prozent plädieren dafür, ihn juristisch zur Verantwortung ziehen; 31 Prozent halten die Anhörungen für fair. Etwa ein Drittel der Befragten gab an, die live übertragenen und gestreamten Anhörungen »sehr oder eher aufmerksam« zu verfolgen, neun Prozent sagten, sie schauten sie »sehr genau« an – 43 Prozent von ihnen sind Anhänger der Demokraten, 22 Prozent der Republikaner.

Donald Trump scheint die Arbeit des Komitees für bedrohlich zu halten, am Wochenende thematisierte er sie bei seiner Rede auf einer Konferenz der Faith and Freedom Coalition. Sie sei ein Beispiel für den »furchterregenden Geist, der die amerikanische Linke verschlungen« habe, sagte er und nannte die Anhörungen »schändliche Aufführungen«, die von »Betrügern« veranstaltet würden. Schon während seiner Präsidentschaft reagierte Trump auf Ereignisse, die seine Pläne zu durchkreuzen drohten, regelmäßig mit länglichen Schimpfkanonaden. Vielleicht macht er sich tatsächlich Sorgen über mögliche Auswirkungen der Arbeit des Komitees auf seine mögliche erneute Kandidatur bei der Präsidentenwahl im Jahr 2024.

Von den Konferenzteilnehmern erhielt Trump für seine Angriffe viel Beifall. Ein angekündigter Redner hatte ­jedoch abgesagt: Mike Pence, für den der Mob am 6. Januar vor dem Kapitol einen Galgen aufgebaut hatte. Verhöhnt von Trump, der keine Anstalten machte, die Menge zu beruhigen oder sich auch nur nach dem Verbleib seines ­Vizepräsidenten zu erkundigen, hatte Pence stundenlang in einer Garage ­unter dem Kapitol ausgeharrt. Ein FBI-Informant schrieb später in einem Memo, Trumps Anhänger hätten Pence »ganz sicher umgebracht«, wenn sie ihn gefunden hätten. Viel hatte nicht gefehlt, bis auf zwölf Meter hatten sie sich seinem Versteck genähert. Ob Pence noch aussagen wird, ist unklar. Der ehemalige Vizepräsident soll Gerüchten zufolge seine Familie am 6. Januar mit ins Kapitol gebracht haben, um ihre Sicherheit zu garantieren.