Im Spielfilm »Wie im echten Leben« taucht eine Autorin in die Welt des Prekariats ein

Recherche in Caen

Der französische Regisseur Emmanuel Carrère erzählt in seinem neuen Film von einer Schriftstellerin, die im Niedriglohnsektor recherchiert. Leider entpuppt sich »Wie im echten Leben« bald als gefälliges Feelgood-Movie.

Sie sei »pünktlich«, »gründlich«, »flexibel«, »teamfähig«, »vielleicht etwas zu perfektionistisch«, versichert die nicht mehr ganz junge Arbeitssuchende ihrer Sachbearbeiterin im Jobcenter der nordfranzösischen Stadt Caen. Dabei ist Marianne (Juliette Binoche) nicht wählerisch; was sie sucht, ist nicht die gutdotierte Position in einem angenehmen Arbeitsumfeld, sondern eine Teilzeitstelle als Putzkraft. Aber selbst der Niedriglohnsektor ist hart umkämpft.

Das ganze Elend zeigt sich schon auf den Fluren der Arbeitsvermittlung. Im Wartebereich trifft Marianne auf die alleinerziehende Christèle (Hélène Lambert). Die dreifache Mutter schäumt vor Wut: Ihr Antrag auf Unterstützung wurde von der Arbeitsagentur nicht berücksichtigt. Christèle will sofort mit der Sachbearbeiterin sprechen und schlägt ­ordentlich Krach, als man ihr sagt, dass sie noch nicht an der Reihe sei.

Der Fokus des Films verschiebt sich, immer stärker rückt die Frage nach der Aufrichtigkeit im Leben und in der Literatur in sein Zentrum.

In ihrer Drastik erinnert die Auftaktszene von Emmanuel Carrères Spielfilm »Wie im echten Leben« an Werke des britischen Regisseurs Ken Loach. Marianne führt ein Doppelleben auf Zeit. Dem Jobcenter ­erzählt sie, dass sie, frisch geschieden, händeringend nach einer Stelle suche, egal wie schmutzig und schlecht bezahlt. In Wahrheit ist Marianne eine erfolgreiche Schriftstellerin der Pariser Kulturschickeria, die für ein neues Buch recherchiert. Im rauen Klima Caens will sie die »Krise der Arbeit begreifen« lernen, um in einer fesselnden Großreportage die »Unsichtbaren sichtbar« zu machen. Es soll um jene gehen, die all die ­Tätigkeiten verrichten, die ohne jede Wertschätzung das große Ganze am Laufen halten: Frauen, die Toiletten schrubben und Betten machen.

Bald wird die verwöhnte Pariserin Marianne eine von ihnen. Die Arbeit ist härter als gedacht. Unpünktlichkeit, Fehlzeiten oder Nachlässigkeit werden vom Arbeitgeber nicht toleriert. Provokationen, Anzüglichkeiten und Schikane durch den Chef sind an der Tagesordnung; Gegenwehr ist nicht vorgesehen. In ­Mariannes Fall ist es eine nicht ganz auf Hochglanz gebrachte alte Mikrowelle, die sie den ersten Job so schnell kostet, wie sie ihn ergattert hat. Dennoch gibt Marianne ihren Plan nicht auf und landet mit Hilfe der tatkräftigen Christèle schließlich in einer Putzkolonne im Hafen Ouistreham, der Caen bedient und dem Film seinen Originaltitel gibt.

Auf den Fähren, die zwischen Frankreich und England verkehren, müssen in den anderthalb Stunden, die sie vor Anker liegen, zwölf Frauen 230 Kabinen herrichten – das bedeutet, dass jede Reinigungskraft gegen die Uhr arbeiten muss. Vor ­allem das Bettenmachen ist harte Arbeit. Marianne gelingt es, sich im Team zu behaupten. Sie freundet sich mit ihren Kolleginnen und einem Kollegen an, macht zwischendurch immer wieder Notizen und schreibt vor und nach der Arbeit an ihrem Buch. Schon bald festigt sich die Freundschaft zu Christèle. Aus der geplanten Reportage wird zusehends das Porträt einer besonderen Person. Zugleich wachsen Mariannes Zweifel an der Redlichkeit ihres Versteckspiels. Mehr als einmal ist sie geneigt, sich Christèle zu offenbaren, unterlässt es aber, um ihr Buch­projekt nicht zu gefährden.

Der Fokus des Films verschiebt sich, immer stärker rückt die Frage nach der Aufrichtigkeit im Leben und in der Literatur in sein Zentrum. Das Drehbuch, das Carrère zusammen mit seiner damaligen Ehefrau Hélène Devynck (beide sind inzwischen geschieden) verfasst hat, beruht auf dem 2010 erschienen Buch »Le Quai de Ouistreham« (auf Deutsch als »Putze! Mein Leben im Dreck« erschienen), in dem die ­Journalistin Florence Aubenas von ihrer Undercover-Recherche berichtet. »Wie im echten Leben« ist nach dem Dokumentarfilm »Retour à ­Kotelnitch« (2003) und »La Moustache« (2005) Carrères dritte Regie­arbeit. Anders als Ken Loach oder die Brüder Dardenne, deren Filme von gesellschaftlichem Ausschluss und seinen Folgen handeln, bringt Carrère nicht zuletzt seine eigenen Gemüts­lagen und Skrupel in den Film ein.

Damit tritt die soziale Chronik mehr und mehr in den Hintergrund. Geht es im ersten Teil des Films noch um prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse, drängt im zweiten Teil die fragwürdige Freundschaft der Schriftstellerin zu ihrer Kollegin im Putzteam in den Vordergrund und damit auch die Problematik von Autorenschaft und Authentizität. Leider werden diese Fragen aber nicht reflektiert, sondern dienen lediglich als Vorwand, sich mit den eigenen Befindlichkeiten zu befassen. Schnell kreist die Kulturszene wieder um sich selbst.

Ein stellenweise aufdringlich elektronisch-klassizistisch wabernder Soundtrack tut ein Übriges, um die Ansätze sozialrealistischer Schilderungen der Lebensverhältnisse am Rande der französischen Gesellschaft in ein Freundschaftsdrama mit hohen Feelgood-Anteilen zu verwandeln. Dazu passen klischeehafte Bilder, die das Aufeinanderprallen unterschiedlicher klassenspezifischer Vorstellungen darüber illustrieren sollen, wie man die Freizeit am besten verbringt: Ausgelassen tollen die Protagonistinnen am Strand herum, lachen, umarmen sich und streiten darüber, wie viel Zeit man damit verschwenden darf, einfach nur aufs Meer zu blicken.

Ebenfalls fragwürdig scheint vor dem Hintergrund der Wahrhaftigkeits- und Authentizitätsfragen das vielfach gelobte gleichberechtigte Zusammenspiel zwischen den für den Film an Ort und Stelle gecasteten Laiendarstellerinnen und der Großschauspielerin Binoche. Leider kippt der Film bei seiner Beschreibung gesellschaftlicher Spaltung und bestehender Klassenschranken eher in deren scheinbar unausweichliche Affirmation, als dass er daran ar­beiten würde, sie zu überwinden. Wenigstens gibt er aber auch am Ende nicht vor, das für möglich zu halten.

Wie im echten Leben (F 2021). Buch: Hélène Devynck und Emmanuel Carrère. Regie: Emmanuel Carrère. ­Darsteller: ­Juliette Binoche, Hélène Lambert, Léa ­Carne und andere. Kinostart: 30. Juni