Russland verhindert mit einer Seeblockade den Nahrungsmittelexport der Ukraine

Elend für alle

Die russische Seeblockade behindert den Export von Weizen aus der Ukraine. Russland fordert eine Aufhebung der westlichen Sanktionen und will der Ukraine wirtschaftlich schaden.

Wenn der weltweite Hunger zu schlimm zu werden droht, rutscht er auch bei der deutschen Regierung auf die Tagesordnung. Ende Juni fand in Berlin eine internationale Konferenz für Ernährungssicherheit statt. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) warnte, 345 Millionen Menschen seien weltweit von Hunger bedroht. Das läge beispielsweise am Klimawandel und den Folgen der Covid-19-Pandemie, »aber erst Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat aus einer Welle einen Tsunami gemacht«, sagte Baerbock. »Russland nutzt Hunger ganz bewusst als Kriegswaffe.« 44 Milliarden US-Dollar an Hilfen seien notwendig, um dieses Jahr die Hungerkrise einzudämmen.

Baerbocks Ausführungen sind insofern trügerisch, als nicht der globale Mangel an Nahrungsmitteln, sondern Armut den Hunger auslöst. Doch hat der Krieg in der Ukraine tatsächlich zu einem dramatischen Anstieg der Preise für Lebensmittel geführt. Die Ukraine war bis vor kurzem einer der wichtigsten Nahrungsmittelexporteure der Welt und produzierte genug, um 400 Millionen Menschen zu ernähren. Vor allem Grundnahrungsmittel wie Weizen, Mais und Sonnenblumenöl wurden über die Häfen am Schwarzen Meer verschifft, zu einem Großteil in Länder des Nahen Ostens oder im nördlichen Afrika, wo bereits jetzt steigende Preise den Zugang ­Armer zu Grundnahrungsmittel noch weiter erschweren. Doch seit Kriegs­beginn kontrolliert die russische Marine die gesamte ukrainische Küste, die von der Ukraine ihrerseits vermint worden ist. Alternative Exportrouten über ­Häfen in Rumänien oder dem Baltikum können den direkten Seeweg kaum ersetzen, weil die Kapazitäten der Zugverbindungen zu gering sind und der Transport mit Lastwagen zu teuer ist.

Ein Ende der Blockade im Tausch für die Lockerung der Sanktionen – ein Berater der ukrainischen Regierung sprach von »Erpressung« der Welt.

Im Mai reiste ein Vertreter des UN-Welternährungsprogramms (World Food Programme, WFP) nach Odessa, in die letzte große Hafenstadt, die noch unter ukrainischer Kontrolle steht, und berichtete, dass dort Millionen von Tonnen Nahrungsmittel, die üblicherweise von der UN aufgekauft und in Krisengebiete transportiert werden, in Silos feststecken. 2020 versorgten die UN über 100 Millionen Menschen, beispielsweise Kriegsflüchtlinge aus Syrien, mit Lebensmitteln.

Auch zukünftige Ernten sind gefährdet. Bis zu 30 Prozent der ukrainischen landwirtschaftlichen Gebiete sind entweder von Russland besetzt oder ­wegen Kampfhandlungen oder Minen unsicher, teilte das ukrainische Landwirtschaftsministerium Ende April mit. In den vergangenen Monaten hat die russische Armee gezielt Infrastruktur und Industrieeinrichtungen mit Raketen beschossen, darunter Ölraffinerien und Treibstoff­lager, aber auch Lagerhäuser für Nahrungsmittel. Der Mangel an Arbeitskräften und Treibstoff schadet der Landwirtschaft ebenfalls, das WFP rechnet mit einem Rückgang des ukrainischen Ernteertrags in den kommenden Jahren um die Hälfte.

Die USA und die ukrainische Regierung werfen Russland außerdem vor, bis zu 500 000 Tonnen Weizen aus den eroberten Gebieten der Ukraine »gestohlen« zu haben. Der Weizen aus der Ukraine werde als russischer Weizen zertifiziert und beispielsweise über die Krim verschifft. Am Sonntag beschlagnahmte der türkische Zoll erstmals ein Schiff unter russischer Flagge, das Weizen aus den besetzten ukrainischen Gebieten transportiert haben soll. Schon im Mai hatten die USA 14 Staaten, vor allem in Afrika, gewarnt, dass russische Schiffe sie mit aus der Ukraine stammendem Weizen beliefern würden.

Anfang Juni traf der Vorsitzende der Afrikanischen Union, der Präsident von Senegal, Macky Sall, in der russischen Schwarzmeerstadt Sotschi Wla­dimir Putin. Sall forderte zwar die Aufhebung der Blockade der Ukraine, bedankte sich aber auch bei Russland für die Versorgung mit Nahrungsmitteln und kritisierte, dass die westlichen Sanktionen gegen Russland die Hungerkrise verschärfen würden.

Mitte Juni sorgte die Chefredakteurin des russischen Staatssenders RT, Margarita Simonjan, für Empörung, als sie beim internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg im Gespräch mit den Präsidenten Russlands und Kasachstans erzählte, ihr sei in Moskau schon oft der zynische Spruch begegnet, dass »der Hunger unsere Hoffnung ist«, denn die Nahrungskrise in den armen Ländern könnte die westlichen Staaten zwingen, die Sanktionen gegen Russland zu lockern. Wladimir Putin pflichtete ihr bei, dass der sich verschärfende Hunger in den armen Ländern »vollkommen auf dem Gewissen der US-Regierung und der EU-Bürokratie lastet«. Die steigenden Nahrungsmittelpreise seien das Ergebnis der inflationären Geldpolitik der westlichen Staaten und würden durch die Sanktionen weiter verschärft.

Russland gehört zu den weltweit wichtigsten Exporteuren von chemischem Dünger. Inwieweit die von den westlichen Staaten verhängten Sanktionen deshalb zu den hohen Nahrungspreisen beitragen, ist jedoch umstritten. »Anders als von der russischen Führung behauptet, sind die US-Sanktionen so gestaltet, dass sie Nahrungsunsicherheit vermeiden sollen. Sie erlauben den Export und Weiterverkauf von Nahrung nach und aus Russland – sogar Transaktionen mit sanktionierten Individuen oder Firmen«, schrieb das US-Außenministerium auf einer eigens zu diesem Zweck erstellten Website. Doch im Juni berichtete Bloomberg, dass sich einige internationale Handelsfirmen, Versicherer oder Ree­dereien dennoch etwa aus dem Handel mit russischem Dünger zurückgezogen hätten. Jetzt sei die US-Regierung mit der »paradoxen« Aufgabe konfrontiert, diese Firmen dazu animieren, ihr Geschäft mit Russland in diesem Bereich wieder auszubauen.

Klarer liegt der Fall bei den Folgen der Seeblockade. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte, es sei ein »Kriegsverbrechen«, den Export von Lebensmitteln zu blockieren, während Millionen von Menschen hungerten. Doch Verhandlungen mit Russland über eine Aufhebung der Blockade für die zivile Schifffahrt bleiben seit Wochen ohne Ergebnisse. Im Mai hatte Wladimir Putin in einem Gespräch mit dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi gesagt, Russland könne »einen wichtigen Beitrag« dazu leisten, »die Nahrungskrise durch den Export von Weizen und Dünger zu überwinden, unter der Bedingung, dass die politisch motivierten Beschränkungen durch den Westen aufgehoben werden«. Ein Ende der Blockade im Tausch für die Lockerung der Sanktionen – ein Berater der ukrainischen Regierung sprach daraufhin von einer »Erpressung« der Welt: Russland wolle nicht nur das ökonomische Potential der Ukraine zerstören, sondern über die Nahrungs­krise auch Druck auf die westlichen Staaten ausüben.

Die Blockade wirkt sich tatsächlich nicht nur auf den internationalen ­Lebensmittelmärkten verheerend aus, sondern schadet vor allem der ukrainischen Wirtschaft, die vor der Invasion stark vom Export abhängig war. Die wichtigsten Exporte waren mit einem Gesamtvolumen von 15 Milliarden US-Dollar jährlich landwirtschaftliche Güter wie Sonnenblumenöl, Mais und Weizen, aber auch Stahl und andere Metalle. Die Seeblockade ist somit ein Druckmittel gegen die Ukraine, das Russland kaum aus der Hand geben dürfte.

Schätzungen zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine in diesem Jahr um fast die Hälfte einbrechen. Das setzt auch die westlichen Staaten unter Druck, die den ukrainischen Staat mit Finanzhilfen und Krediten in Milliardenhöhe stützen müssen. Anfang der Woche trafen sich 40 Länder zu einer internationalen Konferenz in Zürich, auf der über den Wiederaufbau des Landes beraten wurde. Wie die FAZ berichtete, schätzt die ukrainische Regierung, dass allein für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur 750 Milliarden US-Dollar nötig sein könnten.

Die ukrainische Regierung befürchtet, dass Russland, wenn es keinen eindeutigen militärischen Sieg über die Ukraine erreichen kann, das Land durch die Zerstörung der Wirtschaft unter Druck setzen werde. Russland wolle »durch Zerstörung, Leiden und Instabilität das Land schwächen«, schrieb auch die ukrainische Menschenrechtsorganisation Kharkiv Human Rights Protection Group. Auch international sei Russland »an maximaler ­Instabilität interessiert und mehr als bereit dazu, diese durch Nahrungsknappheit und eine Vergrößerung der Flüchtlingszahlen zu verschärfen. ­Gemeinsam mit steigender Inflation und Armut wird das die Unterstützung für rechtsextreme (und gelegentlich auch linksextreme) Parteien in Europa verstärken, die sich Moskau seit Jahren zu Freunden gemacht hat, und die fast immer prorussische, antiukrainische und EU-feindliche Positionen vertreten.«

Solche Warnungen mögen den Einfluss und die Planmäßigkeit der russischen Politik überschätzen, doch orientieren sie sich an der Rhetorik einiger führender russischer Politiker. »Vor dem Hintergrund der antirussischen Sanktionen fällt die Welt langsam in eine nie zuvor dagewesene Nahrungskrise«, sagte etwa der Sekretär des Russischen Nationalen Sicherheits­rates, Nikolaj Patruschew, in einem Interview Ende April. »Dutzende von Millionen von Menschen in Afrika und dem Nahen Osten sind durch die Schuld des Westens von Hunger bedroht. Um zu überleben, werden sie nach Europa drängen. Ich bin mir nicht sicher, ob Europa diese Krise über­leben wird.«

Seit Jahren sprechen Vertreter der russischen Regierung davon, dass sich die westlichen Staaten im Niedergang befänden und in kommenden Krisen gesellschaftlich destabilisiert werden könnten. Auch das rassistische Bild von bedrohlichen Flüchtlingsmassen wird dabei oft bemüht, die auf Traditionalismus und Stabilität zielenden Werte der russischen Politik werden als Alternative angepriesen. »Sie haben die sogenannten liberalen Werte angenommen, obwohl das in Wahrheit nur Neo­liberalismus ist«, sagte beispielsweise Patruschew in dem Interview. Das führe zum Niedergang der »Liebe für das Vaterland« und zur »langsamen Atrophie des Staates. Es ist schon erkennbar, dass Europa mit dieser Doktrin keine Zukunft haben wird.«

Das ist sicher propagandistische Rhetorik, aber sie scheint mit der Überzeugung der russischen Führung zu korrespondieren, dass das autoritäre System Russlands die sich jetzt abzeichnende Wirtschaftskrise überstehen könne, während innenpolitischer Druck die westlichen Staaten bald zu einem Einlenken gegenüber Russland zwingen könnte.