Der Oberste Gerichtshof der USA ­könnte nach dem Abtreibungsrecht weitere Rechte einschränken

Kulturkampf von rechts

Nach einem Urteil des Obersten Gerichts wird in den USA erneut um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch gerungen. Doch auch weitere Errun­gen­schaften wie das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe sind bedroht.

Es war ein Angriff mit Ansage. Nachdem bereits Anfang Mai ein Entwurf der Mehrheitsmeinung durchgestochen worden war, war es keine Überraschung, als der Oberste Gerichtshofs der USA am 24. Juni im Fall »Dobbs v. Jackson Wo­men’s Health Organization« entschied, die bundesweite Geltung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch zurückzunehmen, die er 1973 im Urteil über den Fall »Roe v. Wade« etabliert hatte. Dennoch hat sie das Land zutiefst erschüttert, und das Ausmaß der Folgen ist nicht einmal ansatzweise abzusehen.

Der Jubel der Abtreibungsgegner war, wie zu erwarten, groß. Auf diesen Moment hatte die überwiegend von fundamentalistischen Christen getragene Bewegung seit beinahe 50 Jahren hingearbeitet, und die Republikaner, die sich in den vergangenen Jahrzehnten zu deren politischem Arm entwickelt haben, hatten bereits frühzeitig Vorkehrungen für diesen Tag getroffen. In Texas gibt es seit vergangenem Jahr ein Gesetz, das sogenannte Herzschlaggesetz, das es jeder Privatperson ermöglicht, Menschen, die einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen oder einen solchen unterstützt haben, zu denunzieren. Diese Privatpersonen werden mit 10 000 Dollar belohnt, die von demjenigen als Strafe zu bezahlen sind, der der »Beihilfe oder Durchführung«, wie es im Gesetz heißt, schuldig ist. Andere republikanisch regierte Bundesstaaten haben bereits angekündigt, dieses besonders perfide Gesetz, das im Grunde eine Art Kopfgeld auf Unterstützerinnen und Unterstützer von Schwangerschaftsabbrüchen aussetzt, zu kopieren.

In einem Sondervotum forderte Rich­­ter Thomas, auch diejenigen Ur­­teile zu überprüfen, die das Recht auf Verhütung, gleichge­schlecht­­li­chen Sex und die gleichge­schlecht­liche Ehe ermög­licht haben.

In 19 US-Bundesstaaten gibt es außerdem sogenannte Trigger-Gesetze, die in dem nun eingetretenen Fall, dass »Roe v. Wade« aufgehoben wird, automatisch in Kraft treten und Schwangerschaftsabbrüche mehr oder weniger vollständig verbieten. Zwar haben in einigen Bundesstaaten wie Wisconsin, Kentucky oder Texas, Gerichte oder Staatsanwälte die entsprechenden Gesetze vorläufig gestoppt. In Tennessee und Alabama jedoch wurden sie gerichtlich bestätigt.

Noch größer als der Jubel der Abtreibungsgegner ist jedoch der Protest auf der Gegenseite. Wie bereits im Mai gab es auch jetzt wieder landesweit Demonstrationen, bei denen Hunderttausende auf die Straße gingen. Es lassen sich bei den Protesten grob drei unterschiedliche Strömungen unterscheiden. Zum einen sind da die Demokraten, die die Menschen auffordern, bei den midterm elections, den Kongresswahlen im November, den Republikanern einen Denkzettel zu verpassen. Zweitens gibt es radikalere, meist feministische oder sozialistische Stimmen, die der Partei vorwerfen, zu wenig getan zu haben, um genau diesen Fall zu verhindern. Und schließlich sind da noch diejenigen, die weniger auf die große Politik als vielmehr auf die solidarische Praxis vor Ort blicken, die Spenden sammeln, Netzwerke schaffen und Reisen in Bundesstaaten organisieren, in denen Schwangerschaftsabbrüche legal sind.

Die USA fallen nicht einfach wieder in die Situation vor »Roe v. Wade« zurück. Die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, aber auch die technologischen und medizinischen Möglichkeiten sind heute ganz andere. Besonders alarmierend ist, dass es inzwischen Möglichkeiten für eine nahezu lückenlose digitale Überwachung gibt. Entsprechend wird den Frauen in Staaten, in denen nun restriktive Abtreibungsgesetze gelten, nun geraten, Apps zu löschen, die den monatlichen Zyklus dokumentieren. Durch das Verwenden von Online-Karten oder Einwahldaten des Telefons lässt sich nachvollziehen, wer eine Beratungsstelle für Schwangere aufgesucht hat, und durch Kreditkartenabrechnungen und Einkäufe bei Online-Händlern lassen sich Auffälligkeiten im Kaufverhalten feststellen. Wenn etwa eine Frau plötzlich kein Sushi mehr bestelle oder anfange, Vitamin B6 zu nehmen, könnte das als Indiz für eine Schwangerschaft gewertet werden, wie die Soziologin Zeynep Tufekci in einem Artikel für die New York Times schreibt. Gebäre sie dann in den nächsten zehn Monaten kein Kind, bestehe unter Umständen bereits ein ausreichender Anfangsverdacht, um juristisch zu ermitteln. In ihrem Artikel beschreibt Tufekci ausführlich, wie solche Daten von Tracking-Apps gesammelt, anonymisiert als Listen, zum Beispiel »Frauen, die wahrscheinlich schwanger sind«, verkauft und diese Daten sehr leicht entanonymisiert werden können. Sie nennt auch mehrere Fälle, in denen etwa ein katholischer Priester durch derartiges Tracking als schwul geoutet wurde. Jia Tolentino ­befürchtet in einem Artikel für The New Yorker, dass in Bundesstaaten, in denen Abtreibung verboten ist, das frühzeitige Ende einer Schwangerschaft, etwa durch eine Fehlgeburt, nun möglicherweise als Straftat verfolgt werden könne – ebenfalls mit Hilfe von »Suchverläufen, Browserverläufen, Textnachrichten, Standortdaten, Zahlungsdaten, Informationen aus Perioden­tracking-Apps«. Sie warnt: »Jede Person, die schwanger werden kann, muss sich jetzt der Realität stellen, dass die Hälfte des Landes in den Händen von Gesetzgebern ist, die glauben, dass deine Persönlichkeit und Autonomie an Bedingungen geknüpft sind.«

Dass es so weit kommen konnte, verdanken die USA dem ehemaligen Präsidenten Donald Trump, dessen wohl größtes politisches Vermächtnis – noch vor dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 – in der Ernennung von drei rechtskonservativen Verfassungsrichtern besteht. Da die Ernennung auf Lebenszeit erfolgt, hat Trump den Obersten Gerichtshof auf Jahrzehnte nach rechts gerückt. Die Demokraten können wenig dagegen tun. Die potentiell wirksamste Gegenmaßnahme, eine Erhöhung der Gesamtzahl der Richterposten und die Ernennung fortschrittlicherer Richterinnen, wäre schwer durchsetzbar und verfassungsrechtlich problematisch.

Der Oberste Gerichtshof in seiner jetzigen Zusammensetzung repräsentiert nicht einmal ansatzweise die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung zu wichtigen Themen. Das gilt auch und insbesondere für das Thema Abtreibung. Rund 70 Prozent befürworten laut einer Umfrage von Gallup das Recht auf Abtreibung bei Vergewaltigung und Inzest oder wenn das Leben der Schwangeren bedroht ist. Nur eine verschwindend geringe Minderheit von 13 Prozent lehnt Schwangerschaftsabbrüche unter allen Umständen ab. Genau darauf jedoch laufen die meisten republikanischen Gesetzesinitiativen in der Praxis hinaus.

So machte in der vergangenen Woche ein Fall aus Ohio Schlagzeilen, in dem einem zehnjährigen Vergewaltigungsopfer der Schwangerschaftsabbruch verweigert wurde. Das Mädchen war zu dem Zeitpunkt seit sechs Wochen und drei Tagen schwanger. Erlaubt ist ein Abbruch in Ohio nur in den ersten sechs Wochen der Schwangerschaft. Sie musste von ihren Eltern ins benachbarte ­Indiana gefahren werden, wo spätere Abtreibungen noch legal sind. Die Be­tonung liegt auf noch, denn auch dort wird aller Voraussicht nach die repu­blikanische Parlamentsmehrheit in den kommenden Tagen ein weitgehendes Verbot erlassen.

Wenn es nach dem Verfassungsrichter Clarence Thomas liefe, dessen Frau Virginia Thomas die »Stop the Steal«-Demonstration, die dem Angriff aufs Kapitol vorausging, aktiv unterstützt hat, würde der Oberste Gerichtshof sogar noch weiter gehen. In einem Sondervotum forderte Richter Thomas, auch diejenigen Urteile zu überprüfen, die das Recht auf Verhütung, gleich­geschlechtlichen Sex und die gleichgeschlechtliche Ehe ermöglicht haben. Wie seine konservativen Kollegen darüber denken, ist unklar.
Das Gericht hat jedoch wenige Tage nach dem Urteil zum Recht auf Abtreibung mit derselben Mehrheit im Fall »Kennedy v. Bremerton School District« entschieden, ein Football-Trainer an einer High School dürfe seine Spieler zum Gebet anleiten. Mit diesem Urteil schwächen sie die im Artikel VI der Verfassung und im ersten Verfassungszusatz strikt festgelegte Trennung von Staat und Kirche, dessenthalben es in den USA keinen schulischen Religionsunterricht gibt.

Die USA befinden sich in einem Kulturkampf von rechts. Die Entscheidung des Obersten Gerichts reiht sich nahtlos ein in den Schwall an Gesetzen republikanisch regierter Bundesstaaten, beispielsweise gegen das Lehren sogenannter Critical Race Theory an Schulen oder die Teilnahme von Trans-Mädchen an schulsportlichen Wettkämpfen. Das große Problem dabei: Dieser Kulturkampf ist erfolgreich. Nicht nur werden die Freiheitsrechte immer weiterer Personenkreise immer mehr ­eingeschränkt, Politikerinnen und Politiker, die sich mit diesen Themen pro­filieren, haben sehr gute Chancen, gewählt zu werden. Glenn Youngkin wurde im vergangenen Jahr Gouverneur von Virginia mit einer Kampagne, die »Elternrechte« in den Mittelpunkt stellte, worunter er vor allem das Recht von Eltern versteht, ihre Kinder in Unwissenheit zu lassen über die rassistische Vergangenheit und Gegenwart ­ihres Landes. Bei den midterm elections wollen etliche andere an seinen Erfolg anknüpfen.

Was die Kongresswahlen angeht, könnte die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der Rechten in den USA jedoch auch schaden – zumindest glaubt man das auf demokratischer Seite. Die Wut auf der Straße und in den sozialen Medien wird sich, so die Hoffnung, in den Wahlergebnissen niederschlagen. Vor allem im Wahlkampf um Senatsposten in Pennsylvania und Wisconsin könnte das Thema sich als entscheidend erweisen.

Präsident Joe Biden, der das Urteil als »tragischen Fehler« bezeichnete, hat vergangene Woche angekündigt, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch nach Möglichkeit auf Bundesebene festzuschreiben. Dafür jedoch bräuchten die Demokraten im Senat eine größere Mehrheit als jetzt. Diese bei den kommenden Wahlen zu erringen und gleichzeitig die Mehrheit im Repräsentantenhaus zu verteidigen, dürfte schwierig werden – zumal nun auch die Republikaner damit Wahlkampf machen können, ein solches Gesetz zu verhindern. Den USA steht ein heißer Herbst bevor.