Die Warenförmigkeit der Lebensmittel ist nach wie vor der Grund für den weltweiten Hunger

Vom Hunger profitieren

Der Krieg in der Ukraine hat die nächste Ernährungskrise nach der Pandemie ausgelöst. Doch hat das lediglich eine Entwicklung verschärft, deren Ursachen grundsätzlich im Warencharakter der Lebensmittel liegen.

Für die Armen dieser Welt ist jede Krise im Kapitalismus unmittelbar lebensbedrohlich. In den Jahren nach der globalen Wirtschaftskrise von 2008 etwa brachten die Preissteigerungen auf den Weltagrarmärkten Dutzenden Millionen Menschen den Hunger zurück, dessen Ausrottung bis 2015 die Vereinten Nationen im Jahr 2000 zum Millenniumsziel erklärt hatten. Nicht anders war es vor zwei Jahren, als durch die Lockdowns in Reaktion auf die Covid-19-Pandemie die Produktion von Nahrungsmitteln abnahm und die Lieferketten für Agrarprodukte, Dünger und landwirtschaftliche Maschinen zusammenbrachen.

Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat die Situation weiter verschärft. Seit dem Krieg und der russischen Blockade der ukrainischen Häfen haben sich Energie, Dünger und Getreide rapide verteuert. Bereits im Februar hatte der verlässlichste Indikator für die Preisentwicklung bei Grundnahrungsmitteln, der Nahrungsmittelindex der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FFPI), ein Allzeithoch verzeichnet – und ist seitdem trotz kleinerer Schritte nach unten auf sehr hohem Niveau verblieben. Besonders gut abzulesen ist das am nach wie vor wichtigsten ­Lebensmittel, dem Weizen. Wenn auch die Rekordpreise aus dem Mai, als im europäischen Handel an der Börse Euro­next eine Tonne Weizen bis zu 435 Euro gekostet hatte, nicht mehr erreicht werden, so lagen die Preise im vergangenen Monat noch stabil zwischen 350 und 400 Euro und damit um bis zu 80 Prozent über denen aus dem vergangenen Jahr. Unmittelbar vor dem Krieg hatte eine Tonne noch um die 287 Euro gekostet.

Russland könnte mit seiner geplanten Steigerung der Weizen­exporte von 39 auf 50 Millionen Tonnen einen Großteil der ausfallenden Lieferungen des Kriegsgegners ersetzen.

Folgerichtig warnte die Global Crisis Response Group on Food, Energy and Finance (GCRG) der Vereinten Nationen Anfang Juni in einem Bericht über die globalen Auswirkungen des Kriegs: Milliarden Menschen hätten die »schwerste Krise der Lebenshaltungskosten dieser Generation« zu erwarten. »Insgesamt 48,9 Millionen Menschen in 38 Ländern stehen am Rande einer Hungersnot«, so das World Food Programme der Vereinten Nationen. Zugleich bezifferte es die Zahl der Unterernährten auf mehr als 800 Milli­onen, und das mit steigender Tendenz. Systembedingt trifft dies die Armen im Globalen Süden am härtesten. Zum Vergleich: Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamts werden in den OECD-Ländern durchschnittlich um die 14 Prozent des Haushaltseinkommens für Nahrungsmittel ­ausgegeben, weswegen höhere Lebensmittelpreise zumeist abgefedert werden können; in Entwicklungsländern beträgt der Anteil jedoch bis zu 60 Prozent. Deshalb bringen dort selbst ­kleinere Preissteigerungen Millionen in existentielle Nöte. Zudem können die betroffenen Staaten meist keine ­Ernährungsprogramme auflegen, weil sie kaum mehr Zugang zu Krediten haben.

Dies ausschließlich auf den Ausfall der ukrainischen Ernten und Exporte zurückzuführen, greift jedoch zu kurz. Die Ukraine war zwar vor dem Krieg mit einem Anteil von 11,5 Prozent der weltweit siebtgrößte Produzent von Weizen, sie ist zudem der größte Exporteur von Sonnenblumenöl sowie bei den Maisexporten auf Platz vier. Doch trotz der kriegsbedingten Ausfälle prognostizierte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen kürzlich, dass die Nahrungsmittel nicht knapp werden. Vielmehr geht die Organisation bei allen relevanten Agrarprodukten von etwa den gleichen Produktionsmengen wie im vergangenen Jahr aus.

Just das russische Landwirtschaftsministerium hatte Ende Mai angekündigt, in diesem Jahr eine Rekordernte von 130 Millionen Tonnen Getreide einzufahren, darunter 87 Millionen Tonnen Weizen. Mit seiner geplanten Steigerung der Exporte von 39 auf 50 Millionen Tonnen könnte Russland – ohnehin der größte Exporteur von Weizen – einen Großteil der aus­fallenden Lieferungen des Kriegsgegners ersetzen. Dass dies zu den jetzigen, also hohen Preisen geschehen dürfte, versteht sich auf dem kapitalistischen Weltmarkt von selbst. Und so wird die Erleichterung in den 25 Staaten Afrikas, die mehr als ein Drittel ihrer Getreideexporte aus Russland oder der Ukraine beziehen, nicht allzu groß gewesen sein.

Die Preissteigerungen resultieren also nicht aus realem Mangel, sondern werden vielmehr von den Terminbörsen angetrieben, deren Anleger durch Vereinbarungen über zukünftige Rohstofflieferungen, sogenannte futures, auf kommende Entwicklungen spekulieren. Eingepreist werden hier, neben zu erwartenden weiteren militärischen Auseinandersetzungen, zunehmend auch bedrohliche ökologische und soziale Entwicklungen.

So war der Mitte Mai von der indischen Regierung verhängte Exportstopp für Getreide nach offiziellen Angaben vor allem eine Vorsichtsmaßnahme wegen der extremen Dürre im Land. Auch dass das US-Landwirtschaftsministerium rund 60 Prozent seines Staatsterritoriums in eine von fünf Dürrekategorien einstuft – vor zwei Jahren waren es lediglich 31 Prozent –, deutet an, wie groß die Ernährungskrisen zukünftig zu werden ­drohen. Und weil vor allem pflanzliche Grundnahrungsmittel im Kapi­talismus nicht zur Befriedigung des Bedarfs, sondern nach rein kommer­ziellen Erwägungen produziert werden, dürfte Verknappung auch andere Nutzung als die zur unmittelbaren ­Ernährung stärken, weil sie höhere Profite verspricht: als Futter in der Fleischproduktion, zur Herstellung von Biokraftstoffen oder auch in die Vernichtung, um die Preise in Ländern mit großer Kaufkraft hochzuhalten.

Wo es Milliarden von Verlierern gibt, gibt es auch Gewinner. Vor allem die Lebensmittelindustrie profitiert von diesen Entwicklungen. Wie sehr, darauf hatte zuletzt die britische Hilfsorganisation Oxfam in einem Bericht Ende Mai hingewiesen. »Die Profite der Konzerne und Milliardärsdynastien, die einen Großteil unseres ­Ernährungssystems kon­trollieren, steigen seit Jahren rapide«, heißt es darin. Allein das Gesamtvermögen der Familie Cargill, ­Eigentümerin des gleichnamigen Agrarhandels­konzerns, sei seit 2020 um 65 Prozent, in Zahlen: 14,4 Milliarden US-Dollar, gestiegen. Rekordgewinne seien laut Oxfam auch weiterhin zu erwarten. Dies nicht trotz, sondern gerade wegen des Hungers.