Dreist, dreister, Deutschland
Vor etwa drei Monaten hat die Bundesrepublik Deutschland Italien verklagt. Was hatte Italien verbrochen, dass sich Deutschland nur noch juristisch zu helfen wusste? Die Klage, die Deutschland am 29. April beim Internationalen Gerichtshof (IGH) einreichte, zielte darauf ab, dass in Italien Gerichtsprozesse eingestellt werden – Prozesse, bei denen Opfer deutscher NS-Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs Schadensersatz von Deutschland einforderten. Zudem versuchte Deutschland mit einem Eilantrag, Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen deutsche Liegenschaften in Italien zu verhindern. Diese hätten ab dem 25. Mai etwa gegen die Deutsche Schule, das Goethe-Institut, das Archäologische Institut und das Deutsche Historische Institut gedroht.
Diesen Eilantrag – nicht aber die Klage – zog die deutsche Seite zurück, nachdem die italienische Regierung am 30. April ein Dekret erlassen hatte, dem zufolge Ansprüche aus einem eigens dafür eingerichteten Fonds beglichen werden sollen. Das Dekret sieht im Einzelnen vor, dass die Entschädigungsansprüche italienischer Staatsangehöriger vom italienischen Staat beglichen werden und hierzu von der italienischen Regierung bis zum Jahr 2026 über 55,4 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Ferner sind alle gegen Deutschland geführten Entschädigungsprozesse einzustellen. Vollstreckungstitel, die sich aus solchen Prozessen ergeben, sind außer Kraft zu setzen und bereits eingeleitete Vollstreckungsmaßnahmen sind einzustellen. Sollte dieses Dekret Bestand haben, hätten die italienischen Opfer der Nazis keine Möglichkeit mehr, Deutschland zu verklagen, und Deutschland hätte seine Entschädigungsverpflichtungen auf den italienischen Staat abgewälzt.
Die deutschen Besatzer ermordeten jeden Tag im Durchschnitt 165 italienische Zivilisten, Kriegsgefangene oder Militärinternierte.
Bis heute fordern zahlreiche Italienerinnen und Italiener Entschädigung, weil sie Opfer von NS-Verbrechen gewesen sind. Als Italien am 8. September 1943 einen Waffenstillstand mit den Alliierten vereinbarte, besetzen die Nationalsozialisten das Land und der ehemals wichtigste Verbündete wurde zum »Verräter«. In der Folge ermordeten die deutschen Besatzer bis zum Ende des Krieges jeden Tag im Durchschnitt 165 italienische Zivilisten, Kriegsgefangene oder sogenannte Militärinternierte. Zu diesem Ergebnis kam eine von der deutschen Regierung eingesetzte Historikerkommission. Getötete italienische Soldaten und Partisanen sind dabei nicht eingerechnet.
Im Rahmen von »Bandeneinsätzen« verübte die deutsche Wehrmacht schwerste Kriegsverbrechen in über 600 italienischen Orten. Im toskanischen Sant’Anna di Stazzema zum Beispiel wurden am 12. August 1944 mehr als 560 Menschen ermordet, darunter Frauen und Kinder. Zehn der an diesem Massaker beteiligten SS-Offiziere wurden in Italien zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch Deutschland weigerte sich, sie auszuliefern.
Ein schweres Schicksal erlitten auch viele italienischen Soldaten, die von den Deutschen interniert wurden. Italienische Militärangehörige, die nicht auf deutscher Seite weiterkämpfen wollten, wurden gefangengenommen und ins Reichsgebiet sowie in die besetzten Gebiete im Osten abtransportiert. Dort wurden sie unter unmenschlichen Bedingungen als Zwangsarbeiter eingesetzt. Die über 600 000 Verschleppten wurden zu sogenannten italienischen Militärinternierten (IMI) erklärt, womit ihnen auch die wenigen Rechte von Kriegsgefangenen verweigert wurden. Zwischen September 1943 und Mai 1945 starben auf diese Weise mehr als 50 000 italienische Militärangehörige. Einige von ihnen wurden direkt nach der Gefangennahme von deutschen Truppen ermordet, andere starben beim Abtransport oder infolge der menschenunwürdigen Bedingungen ihrer Gefangenschaft.
Nach Kriegsende zahlte Deutschland an Italien nur Minimalbeträge als Entschädigungsleistungen. Im Rahmen eines »Globalabkommens« wurden 1961 40 Millionen Deutsche Mark an den italienischen Staat gezahlt, allerdings wurden dabei nur die Insassen von Konzentrationslagern berücksichtigt. Opfer von Massakern und Zwangsarbeiter gingen leer aus.
Als im Jahr 2000 unter Druck aus den USA ein Fonds eingerichtet wurde, der die Zwangsarbeiter des NS-Staats entschädigen sollte, gab es auch in Italien Hoffnungen. Den Fonds verwaltete die deutsche Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ). Viele IMI hofften auf eine materielle Entschädigung aus Deutschland.
Doch die deutsche Regierung schloss die IMI vom EVZ-Fonds aus und verweigerte ihnen somit selbst eine kleine Entschädigung. Die Begründung war, dass die IMI »normale« Kriegsgefangene gewesen und damit nicht entschädigungsberechtigt seien. Dabei hatten die Nazis sie 1943 eigens zu Zivilisten, nämlich zu »Militärinternierten« erklärt, um ihnen den Status von Kriegsgefangenen zu verweigern. Als Zivilisten wären sie eigentlich berechtigt gewesen, Gelder aus dem Zwangsarbeiterfonds zu erhalten. Im Jahre 2001 entschied die Bundesregierung jedoch, dass diese Behandlung durch die Nazis im Jahre 1943 illegal gewesen und die italienischen Zwangsarbeiter somit doch Kriegsgefangene gewesen seien – und als solchen stünde ihnen keine Entschädigung zu.
Den Opfern der NS-Verbrechen blieb nach dieser erneuten Demütigung nur die Möglichkeit, Klagen vor italienischen Gerichten einzureichen. In diesen Prozessen wurde Deutschland zu Entschädigungszahlungen verpflichtet, die Urteile wurden von dem höchsten italienischen Gericht, dem Kassationshof in Rom, bestätigt. Daraufhin verklagte Deutschland Italien erstmals vor dem IGH in Den Haag. Der IGH gab der deutschen Seite in einem Urteil von 2012 recht und bestätigte damit, dass selbst bei schwersten Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen keine individuellen Entschädigungsansprüche gerichtlich geltend gemacht werden können. Nach dem Grundsatz der Staatenimmunität dürfe ein Staat nicht vor einem Gericht eines anderen Staates verklagt werden.
Das IGH-Urteil widerspricht allerdings dem italienischen Recht, das jeder Bürgerin und jedem Bürger den Zugang zu Gerichten garantiert, insbesondere bei schwersten Kriegsverbrechen. Folglich entschied im Jahr 2014 das italienische Verfassungsgericht, dass das Urteil des IGH für die italienischen Gericht nicht bindend ist. Die italienischen Urteile, die Deutschland zu Entschädigungszahlungen verpflichteten, blieben nach wie vor gültig und die Zwangsvollstreckungen von deutschem Vermögen und Liegenschaften wurden von italienischen Anwälten weiter angestrebt. Am 25. Mai dieses Jahres sollte ein Vollstreckungsgericht in Rom über die Einleitung von Zwangsversteigerungsmaßnahmen gegen deutsche Liegenschaften entscheiden. Hierzu kam es aufgrund des Dekrets der italienischen Regierung vorerst nicht.
Das abgestimmte Handeln der italienischen und der deutschen Regierung ist in jeder Hinsicht eine Farce und demütigt die Opfer deutscher NS-Verbrechen ein weiteres Mal. An Respektlosigkeit kaum zu überbieten ist darüber hinaus die in der deutschen Klage enthaltene Forderung, dass Italien Deutschland entschädigen müsse, da Deutschland seine Staatenimmunität verletzt sieht. In Italien wurde zudem scharf kritisiert, dass der dem Dekret zufolge einzurichtende Fonds, aus dem die Entschädigungszahlungen nun erfolgen sollen, mit Geldern des italienischen Staats zu füllen ist.
Die meisten IMI haben nach der Abweisung ihrer Anträge bei dem Zwangsarbeiterfonds der EVZ im Jahre 2000 enttäuscht aufgegeben und keine Klage eingereicht. Um Zahlungen aus dem Fonds zu erhalten, muss ein rechtskräftiges Urteil erwirkt werden. Das Dekret setzte hierfür eine Frist, Klage musste bis zum 30. Mai vor einem italienischen Gericht erhoben werden. Von dieser Frist dürften nur wenige potentielle Antragssteller überhaupt erfahren haben, denn in dem besagten Dekret sollte es eigentlich um einen Konjunkturplan gehen; erst am Ende ist dann plötzlich die Rede von den Schadenersatzklagen. In einer Petition haben sich italienische Richter bereits gegen das Dekret gewandt.
Es ist zu vermuten, dass das Dekret vor dem italienischen Verfassungsgericht verhandelt werden wird. Hält das Gericht an seiner bisherigen Linie fest, müsste es das Dekret wohl für verfassungswidrig erklären. Bis dahin könnten allerdings wieder Jahre vergehen, in denen die inzwischen hochbetagten Opfer ohne Recht auf Entschädigung bleiben. Deutschland hat sich wieder einmal vorerst erfolgreich dagegen gewehrt, berechtigte Entschädigungsforderungen zu erfüllen.