Jan Nepomnjaschtschij darf erneut um die Schachweltmeisterschaft spielen

Warten auf Carlsen

Wer gegen den Schachweltmeister Magnus Carlsen antreten darf, ist immer eine spannende Frage. Im Kandidatenturnier scheiterten gleich mehrere Favoriten. Es gewann Jan Nepomnjaschtschij, aber noch ist fraglich, ob Carlsen bereit ist, seinen Titel gegen ihn zu verteidigen.
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Die letzte Runde des Kandidatenturniers 2022 in Madrid ist zu Ende und der nächste Herausforderer des Schachweltmeisters steht fest: Nach 14 Runden siegte Jan Nepom­njaschtschij über seine sieben Kontrahenten. Die Leistung ist historisch: Mit 9,5 von 14 möglichen Punkten erreichte der Russe das beste Ergebnis seit der Einführung des Formats 2013. Er verlor kein einziges Spiel und gewann fünf. Dabei wurden Nepom­njaschtschij nach seiner Niederlage gegen Weltmeister Magnus Carlsen Ende vergangenen Jahres kaum Chancen auf ein Comeback eingeräumt. Damals war seine Leistung nach einer zermürbenden sechsten Partie eingebrochen. Das Match wurde schließlich weniger durch Carlsens Brillanz als durch Nepomnjaschtschijs Patzer entschieden. Gleichwohl schien der 32jährige im Kandidatenturnier immer noch von seiner Vorbereitung auf das Weltmeisterschaftsmatch zu profitieren, so dass er ab der zweiten Turnierhälfte kaum noch ernsthaft in Bedrängnis geriet.

Das Kandidatenturnier gehört zu den aufregendsten Veranstaltungen im Spitzenschach. Denn im Gegensatz zu anderen Turnieren zählt hier normalerweise nur der erste Platz. Für einen Spieler, der nach einigen Spielen im unteren Mittelfeld liegt, ist es deshalb wenig sinnvoll, ein Remis anzustreben, wenn ein Sieg denkbar wäre; es kann schließlich nur einen Herausforderer des Weltmeisters geben. Deshalb warten die Spieler auch häufig mit kreativen Neuheiten in der Eröffnung auf, um ihr Gegenüber früh aus dem Konzept zu bringen, und sie gehen oft große Risiken ein. Sie spielen aggressiv und lassen damit Gegenspiel zu, sie interpretieren Positionen bisweilen zu optimistisch oder machen ­gravierende Fehler aufgrund der nerv­lichen Anspannung.

»Ich habe noch nie so viele schlechte Spiele bei einem Spitzenturnier gesehen.« Wladimir Kramnik, ehemaliger Schachweltmeister

Aus sportlicher Sicht leidet manchmal die Qualität darunter. Der ehemalige Weltmeister Wladimir Kramnik kommentierte das Kandidatenturnier harsch: »Ich habe noch nie so viele schlechte Spiele bei einem Spitzenturnier gesehen.« Für die schachlich weniger versierten Zuschauerinnen und Zuschauer machen die Patzer, der Nervenkrieg, die Originalität und die Verzweiflungszüge das Turnier allerdings besonders spannend. Insbesondere, wenn es mit einem unvorhergesehenen Ergebnis endet.

Wie diesmal: Einer der drei Favo­riten, Alireza Firouzja, wurde Turnierletzter. Nach der letzten Runde wurde bekannt, dass Kramnik zu dessen Team gehörte, was seine vernichtende Kritik noch bitterer klingen lässt. Es scheint, als sei die Turnierstärke des 19jährigen Firouzja zuvor erheblich überschätzt worden. Dazu hatte unter anderem Weltmeister Carlsen selbst beigetragen. Nach seinem Sieg über Nepomnjaschtschij verlautbarte er, seinen Titel lediglich gegen Firouzja verteidigen zu wollen – und andernfalls nicht mehr anzutreten. Außerdem verschwand Firouzja, nachdem er in der Bewertung des Weltschachverbands Fide die Elo-Zahl, die die der­zeitige Stärke eines Spielers angibt, von 2 800 überschritten hatte (was nur den allerwenigsten Großmeistern gelingt), etwa für ein halbes Jahr von der Bildfläche.

Kaum jemand schien realistisch einschätzen zu können, wie gut der gebürtige Iraner, der für Frankreich spielt, sich schlagen würde. Im Turnier zeigte sich dann aber wohl die mangelnde Erfahrung. Nach einem schwachen Start und einer Nieder­lage gegen Hikaru Nakamura in der zehnten Runde sorgte Firouzja zudem für einiges Gerede: Zusammen mit dem Kommentator Daniel Naroditsky schlug er sich bis sechs Uhr morgens die Nacht mit 250 Hyperbullet-Spielen um die Ohren. Hyperbullet ist ein Zeitformat, bei dem jede Seite maximal 30 Sekunden Bedenkzeit für das gesamte Spiel hat. Mit klassischem Schach hat das nur noch begrenzt zu tun, eher mit Mustererkennung und Reaktionszeiten. Geholfen hat es nicht: Firouzja verlor sowohl das Match gegen Naroditsky als auch am nächsten Tag sein Spiel gegen Nepomnjaschtschij.

Zunächst sah es so aus, als wäre nur Fabiano Caruana eine ernsthafte Konkurrenz für Nepomnjaschtschij. Der US-Amerikaner war ein weiterer Favorit des Turniers. Lange Zeit die Nummer zwei der Weltrangliste, hatte der 29jährige das Weltmeisterschaftsmatch 2018 in London gegen Carlsen verloren. Allerdings mit der grandiosen Leistung, sich in keinem einzigen Spiel im klassischen Zeitformat geschlagen geben zu müssen. Nach zwölf aufeinanderfolgenden Remisen siegte der Norweger schließlich im Schnellschach und vertei­digte so seinen Titel.

Caruana gilt als der vielleicht beste Eröffnungsspieler. In Zeiten, in denen alle Zugriff auf leistungsstarke Engines haben, ist es für Spitzenspieler schwieriger geworden, den Gegner in der Eröffnung zu überraschen. Caruana gelingt das aber regelmäßig, sowohl mit den weißen als auch den schwarzen Figuren. Mit seiner gründlichen Vorbereitung und seinen Rechenfähigkeiten lieferte er Nepomnjaschtschij ein Kopf-an-Kopf-Rennen, bis er schließlich in der ­achten Runde eine herbe Niederlage einstecken musste, von der er sich nicht mehr zu erholen schien.

Genau umgekehrt verhielt es sich bei Ding Liren, dem dritten Favoriten. Der 29jährige hat zwei schwere Jahre hinter sich. Durch die von der chinesischen Regierung erlassenen pandemiebedingten Reisebeschränkungen konnte er nicht an Turnieren außerhalb des Landes teilnehmen, Online-Spiele musste er aufgrund der Zeitverschiebung meist mitten in der Nacht absolvieren. Auch das Kandidatenturnier fing für Ding nicht gut an: Er landete erst zwei Tage vor Beginn in Madrid, vom Jetlag geplagt und vollkommen allein. Während alle anderen Spieler zur schachlichen und moralischen Unterstützung von ihren Teams begleitet wurden, verbrachte Ding Berichten zufolge die Zeit zumeist allein auf seinem Zimmer. Dabei hatte der schüchtern wirkende studierte Jurist bereits einige Strapazen auf sich genommen, um überhaupt teilzunehmen: Da er sich nicht über Turniersiege qualifizieren konnte, verschaffte ihm lediglich seine außergewöhnlich hohe Elo-Zahl einen der begehrten Plätze, nachdem Sergej Karjakin ausgeschlossen worden war, weil er vorbehaltlos russische Kriegspropaganda verbreitet. Allerdings galt Ding dem Weltschachverband Fide als inaktiver Spieler, so dass er im Akkord 28 Spiele innerhalb eines Monats erfolgreich hinter sich bringen musste.

In Madrid spielte Ding zunächst weit unter seinem Niveau. Das erste Spiel gegen Nepomnjaschtschij verlor er katastrophal. Nach etlichen Remisen fand er schließlich in der neunten Runde zu seiner Form zurück und schlug hintereinander das polnische Nachwuchstalent Jan-Krzysztof Duda, den Ungarn Richárd Rapport und schließlich sogar Caruana. Schließlich siegte er in der 14. und letzten Runde mit einer atemberaubenden Partie gegen den bis dahin zweitplatzierten Nakamura, der es versäumte, auf Remis zu spielen.

Zum Redaktionsschluss ist noch unklar, ob es ein Rematch zwischen Nepomnjaschtschij und Carlsen ­geben wird oder ob der Russe gegen Ding um den Weltmeistertitel spielt. Carlsen weilte zur Zeit des Kandidatenturniers in Madrid, ließ sich bei ­einem spontanen Schnellschachturnier im Park sehen und traf sich mit Arkadij Dworkowitsch, dem Fide-Präsidenten. Gegenstand ihres Gesprächs waren die Turnierbedingungen des Weltmeisterschaftskampfs. Es wird vermutet, dass Carlsen sich andere Rahmenbedingungen, zum Beispiel hinsichtlich des Zeitformats, wünscht.

Dworkowitsch dürfte ein großes Interesse daran haben, das von vielen ersehnte Match mit Carlsen ankündigen zu können. Im August wird ein neuer Fide-Präsident gewählt und Dworkowitschs Wiederwahlkampagne wird derzeit überschattet von ­seinen allzu engen Beziehungen mit russischen Sponsoren. In einem Interview sagte Dworkowitsch, Carlsen habe bis zum 20. Juli, dem Internati­onalen Schachtag, Bedenkzeit. Sollte Carlsen bis dahin nicht zur Titelverteidigung motiviert werden können, darf sich die Schachwelt wahrscheinlich auf ein Match Ding gegen Nepomnjaschtschij freuen. Mit den beiden würdigen Gewinnern des Kandidatenturniers würden zwei der ­außergewöhnlichsten Spieler der Gegenwart aufeinandertreffen.