Ein Gespräch mit Martina Keller über ihr Buch »Ran ans Leder! Bekenntnisse einer Fußballverrückten«

Ein halbes Jahrhundert Amateurfußballerin

Sie spielt seit 56 Jahren Fußball und hat nun ein Buch darüber geschrieben.

Martina Keller war sechs Jahre alt, als sie auf einem Bochumer Garagenhof zu kicken begann – heutzutage, 56 Jahre später, steht sie immer noch regelmäßig auf dem Platz, spielt auch in der kommenden Saison mit um die Meisterschaft der Hamburger Frauensonderklasse. Mit »Ran ans Leder! Bekenntnisse einer Fußballverrückten« hat die mit 62 Jahren vielleicht älteste Amateurkickerin Deutschlands ein Buch über ihr fußballverrücktes Leben geschrieben.

Schon in der Anbahnung unseres Gesprächs flanke ich Martina Keller ein paar sauber herausgearbeitete Fachfragen rüber: »Warum heben Fußballer immer den Arm, bevor sie eine Ecke schießen? Und machen das Fußballerinnen auch?« Ihre Antwort kommt mailwendend: »Manchmal ist das ein Zeichen, wie die Ecke getreten wird: kurzer Pfosten, langer Pfosten. Bei uns in der Frauensonderklasse hebt aber keine den Arm. Wir sind froh, wenn wir den Ball irgendwie vors Tor kriegen. Vorderer Pfosten oder hinterer Pfosten, das steht nicht in unserer Macht.«

»Es bleibt mir gar nichts übrig, als mit Jüngeren zu spielen. Es gibt halt keine Seniorinnen-Teams.« Martina Keller

Gut zu wissen. Und das mit der Macht sowieso. Denn auch ich schaffte es in meiner aktiven Zeit nur selten mal, eine Ecke bis zum Tor zu wuchten. Und mit 37 war eh Schluss. Nach einigen Muskelfaserrissen sagte mir mein Arzt: »Denken Sie an Lothar Matthäus.« Dem war gerade die Achillessehne gerissen. Den Knall soll man bis auf die Tribüne gehört haben. Sechs Jahre drauf hörte auch er auf. Mit 40! Lächerlich – jedenfalls aus Sicht von einer, die noch mehr als 20 Jahre danach unverdrossen flink und konditionsstark die offensive linke Außenbahn bedient.

Union 03 Altona ist seit Jahren Kellers Verein. Bis vergangene Saison haben sie Kreisliga gespielt, davor Bezirks-, jetzt Frauensonderliga. »Weil unser Kader durch Schwangerschaften ausgedünnt ist, kriegen wir nicht mehr regelmäßig 14 Spielerinnen zusammen«, bedauert sie. Sonderliga heißt nämlich: kleineres Feld, kleinere Tore und, weil nur sieben gegen sieben Spielerinnen spielen, auch kleinere Kader. »Mir wäre ein Elferfeld lieber, und ich traute mir auch noch Bezirksliga zu. Aber egal. Hauptsache Spielen.«

Ihre Mitspielerinnen sind indes immer jünger geworden. Bis auf eine, die mit 56 ähnlich betagt ist und ebenfalls nicht aufzuhören gedenkt, könnten die meisten Kellers Töchter sein. »Aber es bleibt mir gar nichts übrig, als mit Jüngeren zu spielen. Es gibt halt keine Seniorinnen-Teams. Weil zu der Zeit, als ich klein war, kaum jemand gekickt hat.«

»Kaum jemand« meint selbstverständlich: kaum ein Mädchen. Und so war es ja auch in den westdeutschen sechziger Jahren. Daran änderte auch das legendäre WM-Finale der BRD-Männer 1966 in Wembley nichts. Nur die kleine Martina ward durch die sagenhafte Dramatik dieses allerersten Fußballspiels, das sie im Schwarzweißfernsehen sah, derart angefixt, dass sie praktisch gleich nach dem Abpfiff zu trainieren begann.

Friedel hieß ihr erster Coach: damals der Freund, heute der Mann ihrer deutlich älteren Schwester. »Der erkannte beim Eins-gegen-eins, zu dem er sich manchmal einließ, wie gallig ich auf den Ball war. Aber während ich immer dachte, ich habe ihn kurz vor der Niederlage, hat er mir später gestanden, dass er mich meist extra hat kommen lassen. Es machte ihm einfach Spaß, wie ich ­alles gab.« Immerhin könnte Friedels Spaß bewirkt haben, dass sich Martina schon bald in den Jungsmannschaften ihres Stadtteils zu behaupten wusste. Und sich dort so viel Ansehen erbolzte, dass sie oft bereits als Zweite ausgewählt wurde, wenn die Teams zusammengestellt wurden.

Die Grounds in Bochum-Laer, wo Keller aufwuchs, waren überwiegend aus Beton, Asphalt oder jener roten Schlacke, die bei Stürzen ­besonders fiese Schürfwunden riss und sich später überdies als di­oxinverseucht entpuppte. Wenn ein Rasenplatz im Angebot war, ge­hörte er meist einem Club. Aber Fußball im Verein, das war Mädchen und Frauen seinerzeit noch untersagt. Erst 1970 hat der DFB das 15 Jahre zuvor erlassene Verbot wieder aufgehoben.

Besonders gefördert wurde der Frauenfußball danach aber noch lange nicht. Zu tief hatten sich die kruden Thesen von Professor Frederik Buytendijk in die Hirne der DFB-Funktionäre gefressen. Dieser Anthropologe hatte den Fußballgranden ein paar äußerst fragwürdige Vorlagen für ein Frauenverbot geliefert. So hielt er beispielsweise für erwiesen, dass das Treten etwas spezifisch Männliches sei. Ob darum das Getretenwerden speziell weiblich sei, ließ er zwar launig dahingestellt – das Nichttreten aber sei auf jeden Fall weiblich.

Selbst als in den achtziger Jahren der Frauenfußball häufiger vor größerem Publikum stattfand, wurden seine Akteurinnen von deutschen Fußballfans meist belächelt. Alles Lesben, urteilten auch schon mal welche ganz »fachmännisch«, und das war selbstverständlich nicht freundlich gemeint. Als besonders frauenmieser Möpp tat sich der Fernsehansager Wim Thoelke hervor, als er 1970 im »Aktuellen Sportstudio« den Frauenfußball auf erbärmliches Stammtischniveau herunterbrach; Achtung, Triggerwarnung: Martina Keller hat diese Szene in ihrem Buch ausführlich geschildert.

Als fußballverliebtes Mädchen und jugendliche Vielkickerin habe sie diese Auswüchse nicht bewusst wahrgenommen, geschweige denn reflektiert, sagt die Autorin heutzutage. Das sei erst gekommen, als sie während des Studiums, zunächst in Göttingen, dann in Hamburg, im Uni-Sport auf feministisch geprägte Mitspielerinnen traf, die ihren politischen Blick schärften. Zu spüren bekommen hatte sie aber durchaus schon früh, dass ein fußballspielendes Mädchen keine Selbstverständlichkeit war – nicht zuletzt durch den eigenen Vater. Der trug der 13jährigen plötzlich an, lieber schwimmen oder turnen zu gehen, damit ihre rechte Schussbeinwade nicht zu muskulös werde. Darauf müsse man als Mädchen achten. Martina konterte sein Verbot, indem sie fortan mit links schoss.

Nicht ganz so witzig lesen sich jene Buchpassagen, in denen die Autorin offen von den Psychosen berichtet, die sie in ihrer Jugend quälten. Die waren teils so ausgeprägt, dass sie vor Stress hyperventilierte. An manchen Tagen hatte sie panische Angst davor, einzuschlafen. An anderen schaffte sie es nicht, eine Straßenbahn zu besteigen. Sie litt an ex­tremer Höhenangst. Einzig der Fußball oder die Beschäftigung mit ihm, also »Sportschau«-Gucken oder die Lektüre der Fachzeitung Kicker, lösten diese Beklemmungen. Nur einmal versagte selbst dieser Zauber: »Ich war zum Training mit der Klassenmannschaft verabredet. Unser Platz an der Krümmede war jedoch belegt, die Jungs zogen einen Kilometer weiter, zum Lohring. Dazwischen eine riesige Eisenbahnbrücke. Ich kam nicht rüber und blieb weinend zurück.«

Heutzutage wirkt die hochgewachsene, schlanke Frau alles andere als ängstlich. Sie arbeitet als freie Medizin- und Wissenschaftsjournalistin, genießt den Ruf einer hartnäckigen Rechercheurin. Und bietet ihren ­Redaktionen neuerdings sogar Fußballthemen an, was sie vorher bewusst nicht tat. »Ich bin so fußballaffin, dass ich dachte, das tut mir nicht gut, wenn ich in dem Bereich auch noch arbeite.« Inzwischen bilden Themen aus diesem Bereich ihr zweiter großer journalistischer Bereich.

Für ein Hörfunk-Feature besuchte sie das Nachwuchszentrum für Mädchen des SC Freiburg. In ihrem Buch schwärmt sie von den hochklassigen Bedingungen, unter denen die 14- bis 15jährigen Fußballerinnen dort ein Leistungsniveau erreichen, das sie nie hatte. »Ich glaube zwar, die Technik, die ich mir ja selbst angeeignet habe, ist besser als die vieler Spielerinnen meiner Liga. Aber wie gut diese Mädchen heute kicken! Die schießen hart, die sind unglaublich konditionsstark, die sind taktisch geschult und in ihrer Körperlichkeit ganz anders aufgestellt als alles, was ich je erlebt habe.« Ein bisschen neidisch sei sie schon, weiß andererseits aber sehr wohl einzuschätzen, dass etwa ihre Grundschnelligkeit nie hoch genug gewesen wäre für die Frauennationalelf: »Also wenn man sich die jetzige mal 40 Jahre zurückdenkt. Damals gab es ja nur die der Männer.«

Keller hat zu viel zu erzählen für ein bloß halbzeitlanges Gespräch, und selbst die 20minütige Verlängerung, die wir uns einräumen, reicht nicht aus, um alles ausführlich genug zu bekakeln: über ihre, mich jedenfalls, teils extrem verstörende Fanleidenschaft für (die Herrenmannschaft wohlgemerkt!) Borussia Dortmund zum Beispiel. Oder ihre fast fußballidentische Begeisterung für den argentinischen Tango. Oder ihre Verletzungsbilanz … Obwohl, die ist mit dem einen Muskelfaserriss schnell abzuhaken. Bleiben also noch wenige Sekunden für ein kurzes Resümee ihres langen Fuballerinnenlebens: »Ich hab’ meinen Spaß gehabt. Das kann ich sagen. Und ich hab’ ihn bis heute.«

Das merkt man ihr an. Nicht nur im Gespräch. Eine beeindruckende Frau und eine tolle Lebensgeschichte.

Martina Keller: Ran ans Leder! Bekenntnisse einer Fußballverrückten. Droemer, München 2022, 256 Seiten, 16,99 Euro